Klages, LudwigEROS

Eros, mit einem langen „o“ wie Rose, nicht Ross. Also Erooos. „Sie war“, fuhr Eduard fort, „eine ganz besondere Frau. Sie kam (zum Orgasmus) rein durch Penetration, was sehr selten ist.“ Ich pflichtete ihm bei. Zumeist kommen Frauen ja gar nicht so einfach zum Orgasmus. Es dauert seine Zeit. Die Partner müssen sich gut kennen. Klitoris und Brustspitzen wollen wollüstig gerieben werden. Viele Frauen selbst halten den vaginalen Orgasmus für einen Mythos. Sie kommen nur durch klitorale Stimulation. Nicht so bei Euphoria. Sie kam, wie gesagt, durch Penetration, durch Vereinigung, und dann kam’s ihr, „daß ich mich bald in ihr verlor: Ihr Orgasmus nahm mich völlig gefangen. Ich spürte mich selbst kaum mehr. Ihr Sexus“, fand Eduardo, „war universal, breit, sich ergießend, was ein Mann sich nur immer wünschen konnte!“ Eduard war fast wehmütig geworden. So nahm ihn die Erinnerung an diese wunderbare Frau gefangen. „Ihre Libido“, hob er wieder an, „war umfänglich: Sex, Eros, Kunst. Und alle drei zusammen spürte man schon, wenn sie einem die Hand gab. Ihre Augen funkelten im tiefen Blau. Starker blonder Haarwuchs, den sie halblang fallen ließ oder zum Pagenkopf stilisierte. Aus ihrem angeborenen weiblichen Talent machte sie eine Tugend. Nein, nein, sie ging nicht, sich zu verkaufen, sondern wurde Körpertherapeutin und lernte bei Schülerinnen von Ida Rolf das sog. Duggan/French Approach, die DFA-Körpertherapie. „Das war das Interessanteste“, fand Eduard, „was ich je erlebt habe. Sie faßte einen an und brachte meine Körperteile entlang der Energiebahnen in Fluß. Als ob sie frei schwingen könnten, so bewegte sie sie, im Einklang mit Energie und Bewegungsrichtung.“ Das Ziel war die entspannte körperliche Zentrierung, die jeden Bewegungsablauf vereinfachte, ja ihn gar nicht merken ließ. Alle Bewegung geschieht mühelos, wer sich einmal auf den Behandlungstisch einer DFA-Therapeutin gelegt hat. „Dann kam das Ereignis“, berichtet Eduardo. „Sie bewegte meine Arme, die Schultern, den Oberkörper... Ich hatte Pilze genommen, und so spürte ich alle meine Sinne doppelt, ja verdreifacht stark. Und während sie mich in Wellen dem Fluß der Körperbewegungen anpaßte, schien sie auf einen imaginären Gipfelpunkt zuzusteuern. Mir war, als fiele ich plötzlich aus allen Scharnieren des Körpers heraus. Ich war - auf einmal - vollkommen freigesetzt, schwang in reiner Harmonie in mir selbst, als wäre ich nur noch reines Bewußtsein. Es war wie ein Kick, eine allumfassende Erkenntnis, ohne daß ich etwas dachte; ich war nur - frei. Innerlich, äußerlich, bewußtseinsmäßig, körperlich. Das war frappierend: Pilze plus DFA - ein berückendes, ekstatisches Gefühl.“
Was Eduardo beschreibt, ist eine Grunderfahrung des Seins - das ekstatische Heraustreten aus der körperlichen, bewußtseinsmäßigen Beschränktheit, so als könnte man fliegen wie im Traum. Ludwig Klages nennt diese Grunderfahrung, die sehr alt ist: Den kosmogonischen Eros. Man wird von erotischer Kraft bewegt und glaubt, plötzlich in der Freiheit kosmischer Unbegrenztheit wieder aufzuerstehen. Ein solcher Zustand kann durch spirituelle Übung, die - wie im tantrischen Buddhismus - Körper, Rede und Geist, den Menschen in seiner Totalität, anspricht, befördert werden. Fasten, Meditation und auch Drogen können diesen Zustand herbeiführen. Ludwig Klages hat diesem Thema des kosmogonischen Eros einige seiner berühmten Schriften gewidmet, von denen die berühmteste eben „Vom kosmogonischen Eros“ heißt. Klages war schon vor dem Ersten Weltkrieg ein radikaler Verfechter des deutschen Natur- und Heimatschutzes. Nicht Blut und Boden interessierte ihn, sondern „Mensch und Erde“, seine wohl berühmteste Essaysammlung. Was hindert das Leben, sich wie die Natur zu entfalten? Das Ich, sagt Klages, das als Werkzeug des Geistes gegen die Seele stimmt. Ja, der Geist ist der Widersacher der Seele. Seele steht für Natur: Beide sind seit Anbruch des Christentums geknechtet, vergewaltigt, erpreßt, gestört, verdorben, vernichtet und zerstört. „Der Geist als Widersacher der Seele“, so der Titel von Klages Hauptwerk, trägt die Verantwortung für den Raubbau und die letztendliche Zerstörung der Natur.
Der kosmogonische Eros aber, die Entfaltung des Menschen ins Kosmische hinein - und Kosmos meint universale Ordnung -: Das war es, was der Philosoph fand, dieser Eros ist jene durchdringende Inspiration, die alle Grenzen von Körper, Seele und Geist durchstößt und ins Weite, Ungemessene hinausführt: Die ozeanische Selbstentgrenzung, wie es die moderne Psychologie veränderter Bewußtseinszustände nennt. Es ist das, wenn wir finden, etwas habe sich vollendet; denn es könnte nicht besser sein. Für Klages ist diese Form der Erfahrung die Signatur des Rausches, der von unserer alltäglichen Ernüchterung Lichtjahre entfernt ist.
Der Mensch des 20. Jahrhunderts, des ausgehenden zweiten Jahrtausends ist weit von dieser selbstentgrenzenden erotischen Erfahrung entfernt. Sein Ich ist so hart, daß es KZ errichtete, Wälder dem Moloch Industrie zum Opfer bringt und bei immer umfassenderen Widersprüchen der Weltzivilisation immer wieder zu konvulsivischen Katastrophen neigt: Denn das Ich, das schmale Etwas am Saum unserer Milchstraße, ist völlig unfähig, Probleme anzugehen, die universal und kosmischer Natur sind. Kaum ein Politiker ist heute fähig, wirklich global zu denken und über den schmalen Rand seines eigenen Ichs und dessen Interessen hinauszublicken.
Erotik ist mehr als Sex. Liebe ist mehr als Beischlaf. Frigidität oder Impotenz sind, wie man heute sagt, präorgasmische Störungen, die eher auf ein Zuviel als auf ein Zuwenig hindeuten. Die „frigide“ Frau hat Angst, den Vulkan, auf dem sie sitzt, in den Kosmos zu entladen! Deshalb, aus unwissender Scham, die Kontrolle zu verlieren, hindert sie durch die Härte ihres Ichs den Vulkan, auszubrechen. Dies geschieht, über Jahre praktiziert, unbewußt; denn es ist anerzogen, konditioniert - ein soziales Phänomen, das sich oft bei Frauen findet, die zu früh erwachsen werden mußten und keine Zeit hatten, ihren Sexus zu entdecken. Ihr Eros - die erotische Gesamtpersönlichkeit - bleibt im Zuge der Sozialisation auf der Strecke. Klages schrieb sein Buch über den kosmogonischen Eros kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Diese Zeit war günstig. Damals blühten Esoterik, Spiritualität und Entdeckerfreude des Unbewußten. Auch Hitler wurzelte in dieser Zeit. Seine Vision trug starke religiöse Züge. Die Hitler-Jugend wurde in einem politisch religiösen Geist erzogen! „Was wir für die Einigkeit Deutschlands tun, geschieht nicht nur im Geist der Politik, sondern auch im Geist der Religion.“ So rief der Reichsjugendführer Baldur von Schirach der Hitler-Jugend in Potsdam anläßlich des Reichsjugendtages am 2. Oktober 1937 zu! Der Boden für Grenzgänge jeder Art hatte nach dem Ersten Weltkrieg, d.h. nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und der deutschen Revolution 1918, sich in jeder Hinsicht als fruchtbar erwiesen. Zwischen den Weltkriegen faßte auch der Buddhismus in Deutschland Fuß, aus dieser Zeit stammt noch das Buddhistische Haus in Berlin- Frohnau.
Der kosmogonische Eros, beschwingt durch DFA, Tantra oder Drogen ist eine grenzöffnende Erweiterungserfahrung des menschlichen Bewußtseins. Das Leben reißt uns hin, indem es das Ich opfert. Eros Lysios, der lösende Eros, nannten die Griechen den Gott, der ihnen das Bewußtsein erweiterte. Dazu nahmen sie die Mysterien zu Hilfe. Die Eleusinischen Mysterien kredenzten den Mysten zudem einen Rauschtrank, der halluzinogene Wirkstoffe - Psilocybinpilze, Mutterkornderivate, woraus auch das moderne LSD synthetisiert wird - und natürlich Gerste und Pfefferminze enthielt. Jene uralten Entheogene, göttliche Medizinalpflanzen, halfen kräftig nach, die Eingeweihten Gott erleben zu lassen und - wenigstens auf Zeit - die visionäre Ekstase der kosmischen Schau zu erfahren. Ludwig Klages, der C. G. Jung, Rudolf Gelpke und viele andere Mystiker des 20. Jahrhunderts beeinflußte, forderte daher:
„Die seelenkundliche Erforschung der Ekstase bedarf der Ergänzung durch eine Wissenschaft von den Berauschungsmitteln. Opium, Haschisch, Koka, Alkohol, ätherische Öle, Weihrauch, Lorbeer, die Solaneengifte, selbst Nikotin, Koffein, Tein haben wechselweis dem Entselbstungsdrange der Visionäre gedient, und wir dürfen erhebliche Aufschlüsse über das Wesen des Rausches von einer Wissenschaft der „Signaturen“ erwarten, wie sie im Frescostil die Mystik der Renaissance entwarf. Heute müssen wir uns mit der inneren Schau begnügen.“
Die Wissenschaft der Signaturen hat bis heute Einlaß lediglich in Hahnemanns homöopathische Grundlagenforschung gefunden. Auch in den „Bach-Blüten“, der Lehre der heilenden Potenzen der Blüten, spielen die Signaturen der Pflanzen, ihr heilendes Potential, eine wichtige Rolle. Aber eine Signatur des Rausches? Dazu Klages:
„Der zu allen Zeiten und bei sämtlichen Völkern der Erde verbreitete Gebrauch von Betäubungsmitteln bekundet imgrunde die leidenschaftliche Sehnsucht der Seele, aus dem Kerker zu flüchten, in den sie der Geist gesperrt hat. Alles, was man schulmeisternd darüber vorgebracht, spricht an der Sache vorbei und entblößt nur den Geisteshochmut einer lebenhassenden Sittlichkeit. Gewiß, der ‘Trunkenbold’ ist eine Entartungserscheinung; aber nicht, weil er ‘trinkt’, sondern weil bei ihm zur stumpfen Gewohnheit wurde, was dem Lebendigen Fest und Feier ist! Und entartet der Mensch etwa nur im Genuß der Berauschungsmittel? Ist die ruhelose Geschäftigkeit im Zwange der Notdurft, die heute zahllose Menschen zu Hörigen der Maschine macht, nicht erst recht ein Laster, in Vergleichung mit dessen zermürbender Furchtbarkeit das Laster des Trinkens noch einen festlichen Schimmer bewahrt!“
Was den Cannabis Rausch, der schon unseren indogermanischen Vorfahren als elementare Praxis der Ekstase galt, so darf man noch einmal positiv auf die grundlegende Erfahrung hinweisen, die Norman Mailer, der Kultautor der Kriegsgeneration US-Amerikas, so zum Ausdruck brachte:
„Ich sage meinen Kindern immer - und ich habe keine Ahnung, ob sie mir zuhören - zuerst die Schule und dann das Grass. Zumindest ist Grass etwas, mit dem man so oder so vorankommt. Wie ich meine, bringt Grass die Dinge zusammen. Eignet sich wunderbar dazu, neue Verbindungen im Hirn zu entdecken. Einfach göttlich. Auf Grass denkt man assoziativ. Man gelangt damit zu wirklich außerordentlichen Gedanken. Doch je gebildeter jemand ist, umso mehr an Gedanken muß er hinterher auch zusammenbringen und das führt wieder zu einem unglaublich hohen Maß an Verbindungen, die es im Universum zu entdecken gibt.“
Und diese Verbindung: Das ist das Leben. Nicht das Ich, das nur ein statischer Abglanz, ein Kontrollmechanismus ist, den man aufgeben sollte, wenn man ins Bett geht...
Eigenartigerweise und sehr weitsichtig knüpft Ludwig Klages die Kultivierung der Ekstase an den Toten- und Ahnendienst. Damit ist es heute nicht weit her. Die Mutter von X will sich anonym begraben lassen. Das wünschen sich viele, die die Massengräber mit angesehen haben und ihrem Ich nicht mehr den Glanz und die Herrlichkeit beimessen, wozu es Stolz Rassenwahn verführten. Die Kinder von Y lassen das Grab ihres Vaters einebnen, damit sie keine Sorgen mehr mit seiner Pflege haben. Der Findling mit seinem Namenzug darauf wird umgekippt, und der Friedhofsvorsteher macht ein Mustergrab daraus, Typ „nordisch-rustikal“ --- Was es mit der Ekstase und ihrem Wesen, das sich im Totendienst verkörpert, auf sich hat, macht man sich am besten im Spiegel des eigenen Endes klar. Unsere Bestattungsbräuche kennen nur Erd-, Feuer- und Seebestattung. Eine „Luftbestattung“ wie bei den Indianern in den Baumkronen oder auf Holzpostamenten, Auge in Auge mit Sonne, Mond und Sternen, das gibt es bei uns nicht. Wir hängen alle an unserem Leib. Das merken wir, wenn wir uns fraglich entscheiden: Möchstest du begraben, verbrannt oder den Fluten des Wassers überantwortet werden? Da beginnt die große Ausfahrt, wenn sich das Wesen der Ekstase, die ein außer sich sein bezeichnet, meldet. Uralte Elementenlehre: Erde, Wasser, Feuer, Luft - in einem dieser Elemente heißt es hinübergehen. Groß ist die Auswahl nicht. Doch wird, so hoffen wir, jedem genüge getan. Angst vor dem Tod ist Unwissenheit über das Wesen der Ekstase. Eros ist mehr als Sex, er öffnet den Weg und läßt uns hinausfahren in das allumfassende Leben, das die Griechen mit Kosmos bezeichneten, die Lateiner mit Universum und wir mit dem schönen Wort: Das All. Meint das Ganze. Ein Leben also, zu dem der kosmogonische Eros der Schlüssel und wovon Sex ein Abglanz, aber immerhin - so wie im Orgasmus - die ekstatische Ausfahrt in den ichlosen Zustand der universalen Vereinigung ist.

Thomas Illmaier

Zschr. Hanf, 12/1998, S. 24-25.


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