Samuel WidmerDie Kunst des Therapeuten
Anwendung psychoaktiver Substanzen in der Psychotherapie

Die Schweizerische Ärztegesellschaft für psycholytische Therapie existiert seit 1985. Von den 25 Gründungsmitgliedern erhielten 1987 fünf Ärzte der Gesellschaft Bewilligungen des Schweizerischen Bundesamtes für Gesundheit, psychoaktive Substanzen in der Psychotherapie anzuwenden. Diese Genehmigung zur Anwendung betraf LSD, das Albert Hofmann bei Sandoz 1938 erstmals synthetisierte (WELTWOCHE 30.12.1993), sowie MDMA. Während LSD pharmakologisch zum Typ der Psychedelika gehört, wird MDMA, ein Amphetaminderivat, der Klasse der Empathogene zugeordnet. MDMA hilft, die eigenen Gefühle besser wahrzunehmen, aber auch sich besser in die Gefühlswelt anderer Menschen einzufühlen. Für die Psychotherapie ist es ein wichtiges Hilfsmittel.
Samuel Widmer, Psychiater in Solothurn und Mitglied der Ärztegesellschaft für psycholytische Therapie, schrieb mehrere Bücher über die Anwendung der psychoaktiven Substanzen LSD und MDMA. Sein Grundlagenwerk ,,Ins Herz der Dinge lauschen“ (Nachtschatten Verlag, Solothurn) erschien bereits in zweiter Auflage und wurde inzwischen auch ins Englische übersetzt. Nach Widmers Erfahrung scheint MDMA ,,vorübergehend Barrieren und Widerstände gegen die Einsicht in gefühlsmäßige Bereiche und Beziehungssituationen zu lockern, sodaß eine Verarbeitung unerledigter und emotional blockierter Erlebnisse möglich wird.“ Die Kommunikation, sowohl gefühlsmäßig als auch verbal, verbessert sich deutlich. Selbstachtung und eine positive Lebenseinstellung des Patienten werden gefördert. LSD hingegen führt in tiefere Bereiche der menschlichen Psyche und macht diese bewußt. LSD öffnet die unbewußten Bereiche, die sonst schwer zugänglich sind, und macht den Kern der Persönlichkeit bewußt.
Samuel Widmer unterscheidet den Kern der Persönlichkeit, aus dem die Gefühle der Liebe und Lebensbejahung (Kerngefühle) hervorquellen, und die darüberliegende Schicht der unterdrückten Gefühle wie Trauer, Ausgeliefertsein oder Sinnlosigkeit, die wir im allgemeinen verdrängen. Ganz zuoberst liegen die Gefühle der Anpassungsschicht, die unmittelbar im gesellschaftlichen Leben wirksam sind und oft eine Maske darstellen. Menschen, die nur in der Anpassungsschicht leben, ihr wahres Gefühlsleben verdrängen und nicht auf ihre Kerngefühle hören, werden psychisch krank und erliegen oft einem furchtbaren Prozeß letztendlicher Selbstzerstörung. LSD kann nun die verschiedenen Schichten der Persönlichkeit offenlegen und hilft dem Psychiater wie dem Patienten, ein depressives oder narzißtisches Leiden besser zu verstehen. Narzißmus in krankhafter Form drückt sich im allgemeinen in extremer Beziehungslosigkeit aus. Ein narzißtischer Mensch errichtet eine Scheinwelt, in der er sich versteckt aus Angst vor sozialen und persönlichen Begegnungen.
Wie sieht nun eine Therapiestunde mit Unterstützung von MDMA und LSD aus? Die Wirkung von MDMA hält etwa vier Stunden an, LSD wirkt etwa zwölf Stunden lang. Der Patient verbringt die Zeit in angenehmer Atmosphäre unter Begleitung des Therapeuten, der meist eine Co-Therapeutin bei der Sitzung hinzuzieht. Der Patient erlebt die emotionale und Gefühlswelt sehr deutlich, kann darüber reden und auch nonverbal mit dem Therapeuten durch Gefühlsübertragung kommunizieren. LSD macht dem Patienten sehr tiefe Bereiche seiner Psyche bewußt, Prägungen der Kindheit, wo die Weichen für das ganze Leben gestellt werden, können zum ersten Mal betrachtet werden. Der Therapeut hilft dem Patienten, sein ursprüngliches Leid anzusehen; dadurch wird es überhaupt erst bewußt. Die Kunst des Therapeuten ist eigentlich ein Nichts-Tun, das aber vollkommen bewußt nicht nur das Problem des Patienten spiegelt oder verkörpert – der Patient nimmt es als Projektion so wahr – sondern die Gesamtsituation, wie sie ist, durch ruhiges Dabeisein ermöglicht und geschehen läßt. Die Einsicht des Patienten während einer psycholytischen Sitzung vollzieht sich in möglichster Ruhe und wird entsprechend tief erlebt. Verdrängte Gefühle können oft zum ersten Mal zugelassen werden und ermöglichen eine neue und doch, vom Kern der Persönlichkeit vertraute Sicht auf das Leben, des eigenen, der Natur und das der anderen.
Die Nacharbeit nach der eigentlichen psycholytischen Sitzung ist oft noch wichtiger als die Sitzung selbst, damit die Erlebnisse unter dem Einfluß der psychoaktiven Substanzen in den Alltag integriert und restlos verstanden werden. Zu den wichtigsten sich daraus ergebenden Themen hat Samuel Widmer weitere Bücher geschrieben, die jetzt bei Edition Heuwinkel, Basel/Genf 1994 erschienen sind. Vor allem durch sein Buch ,,Von der unerlösten Liebe zwischen Vater und Tochter“ dürfte Widmer einen wichtigen Beitrag zu einem fast gänzlich tabuisierten Bereich menschlicher Erfahrungen geleistet haben. Aber er schrieb auch ein Buch ,,Von der Einsamkeit auf dem Weg“ mit Geschichten, Träumen, Gedanken und Meditationen sowie ein Bilderbuch für kleine und große Kinder: ,,Ein Mann, der ein Bübchen im Bauch hatte“. Widmer illustriert seine Bücher selbst. Kreativitätssteigerung ist eine der positiven Wirkungen psycholytischer Therapie, deren Ziel die Erweckung der Liebe ist. Widmer malt selbst und regt auch seine Patienten zum Malen an. Seine musischen Fähigkeiten sind ein großer Gewinn für die Patienten. Insbesondere beherrscht er alle Fähigkeiten und Raffinessen, den chinesischen Gong zum Klingen zu bringen, dessen Schwingungen tiefen Widerhall in der menschlichen Psyche finden. Selbstgemachte Musik während der psycholytischen Sitzung gehört zu den tiefsten und anregendsten Erfahrungen, wodurch sich auch die Effekte der Klang- und Musiktherapie nützen und verstärken lassen.

Thomas Illmaier

Esoterik und Wissenschaft, Sept.-Dez. 1995, S. 39-40.

Bild: „Die Einsamkeit auf dem Weg“ von Samuel Widmer (Edition Heuwinkel).


 

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