Herman de VriesHerman de Vries ,,to be“

Um die Kunst von Herman de Vries zu verstehen, muß man selbst Erfahrung haben mit der Natur als Kunst. Ich will ein Beispiel geben: Als ich kürzlich den Reinhardswald besuchte, ein großes Waldgebiet nördlich bei Kassel, hatte ich Gelegenheit, Natur in ihrer Kunstproduktion zu sehen. Der Reinhardswald beinhaltet in der Nähe von Hofgeismar, dem Ort, wo Bonifacius die Donareiche fällte, ein Stück ,,Urwald“, der seit gut hundert Jahren forstwirtschaftlich nicht mehr genutzt wird. Dort wächst die Natur und wird so belassen, wie sie ist. Hier beobachtete ich, wie eine absterbende Eiche ihre Äste einfach fallen läßt, die sich um den Stamm gruppieren wie ein Mandala. Die herabfallenden Baumteile liegen kreisrund und doch kreuz und quer, der Kreis ist angedeutet. Wie es gefallen ist, so bleibt es liegen, und es sieht wunderschön aus. Das ganze – ohne jeglichen Eingriff des Menschen – ist ein Kunstwerk; denn so wie es liegt, ist es ein Sein, die Formierung eines Urbildes gar, dessen Struktur von den zufällig gefallenen und am Boden liegengebliebenen Teilen in reiner Präsenz die Perfektion der Lehre eines natürlichen Bildes ist. Man lernt hier Magie (den Seinsgrund urgeometrischer Formen), Ästhetik: die perfekte visuelle Anschauung, die Formierung reiner Struktur; schließlich Befreiung, weil der Geist in der Anschauung solch eines vollendeten Naturbildes nichts als bejahen kann. Und diese Art von Kunst betreibt Herman de Vries.
Ich hatte Gelegenheit, seine denkwürdige Ausstellung ,,to be“ im Karl Ernst Osthaus-Museum, Hagen im Frühjahr 1996 zu sehen. In der Eingangshalle ein Kreis von vielleicht fünf Metern Durchmesser nur aus Lavendelblüten geformt. Ihr Duft machte die Umwelt zum Lebensraum: Welch ein Empfang! Man konnte dort auch seine berühmten Hexendenkmäler sehen, die wichtigsten Vier: Eisenhut, Mutterkorn, Tollkirsche, Baldrian. Fein säuberlich getrocknet und als ganze Pflanze aufrecht auf Papier gebracht: Die getrocknete Pflanze zum Kunstwerk gerahmt. Der Künstler muß heute auftreten und dem Menschen wieder bewußt machen, was dem Menschen einst die Pflanzenwelt bedeutete und was sie ihm immer noch bedeuten kann: Visionspflanzen, von den Hexen benutzt, haben ihre Kräfte bis heute erhalten. Aber es sind auch die Steine, die Farben der Erde, die Herman de Vries ausreibt und so eine Erdfarbenlehre kreiert, die manchen Bauern aus dem Steigerwald, von woher de Vries die Erden nahm, erstaunen würde. Spektakuläres sicherlich: Die drei Kilo Mutterkom, aus denen Albert Hofmann, ich weiß nicht wieviel, LSD herstellen könnte, im Obergeschoß des Museums, angestrahlt von Sally Webers Hologramm, in dem sich bei gutem Wetter die Sonnenstrahlen brechen, und dann die vielen Blattspiegel, worin Natur vom Wind zufällig plaziert und liegengelassen, doch aufgehoben wird: Das ist das Bild der Natur / Da fragt man sich, warum der Mensch sich von diesen Urbildern, in denen alle Schönheit und aller Sinn sinnlos freigebig sich ausschenkt, sich von diesen Urbildern abwendete? Er muß sich verrannt haben. Im Extrem: ,,da, wo kunst und natur als gefahr für die gesellschaft dargestellt werden, da stehe ich und fordere freiheit.“ sagt Herman de Vries über seinen Standpunkt in der Natur, im Ganzen des Seins.
Sein, to be, sein mit oder ohne zu, jedenfalls fragt die Philosophie in Zeiten der Gefährdung nach dem Sinn von Sein. Man lese die Anfangsseiten von Heideggers ,,Sein und Zeit“, der sein Werk am Vorabend der großen Katastrophen in unserem Jahrhundert schrieb. Hat das Sein einen Sinn? Nein. Es hat nur den einen Sinn, daß es ist. Das läßt sich nicht schlüssig beweisen. Und buddhistische Philosophen wie Nagarjuna würden sogar das Gegenteil beweisen, um schließlich zwischen dem was ist und dem was nicht ist den Mittelweg zu finden, den sie zeigen. Daß wir auf diesem mittleren Weg die Eiche finden, die ihr Kleid wie ein Mandala abwirft? Höchstwahrscheinlich: Das Sein der Natur ist nicht aufdringlich, so gut als ob es nicht wäre. Darin liegt das große Geheimnis; denn die Natur läßt uns nicht fallen, auch über den Tod hinaus gibt es ein Sein, von dem Hegel ahnte, daß es mit dem Nichts identisch sei. Herman de Vries gibt mit seinen ,,natural relations“, seinen Bildern, die Natur präsentieren, Lebenshilfe, die spirituell anstimmen kann. Er gibt auch eine Sterbehilfe; denn sein Wissen reicht noch tiefer als sein Bild. Bedenken wir, daß die Hexenpflanzen, die geistbewegenden Pflanzen nicht nur ein Schlüssel zur anderen Welt der Visionen und Träume sind, nein, sie erschließen, stärker dosiert, auch das Jenseits ohne Wiederkehr. Vielleicht schwingt in der Tollkirsche die Bedeutung mit: Atropa belladonna, wie sie griechisch-lateinisch heißt: Das ist die unerbittlich schöne Frau. Wer die Gipfel des Paradieses erklimmt, muß todesmutig und auch zum letzten Opfer bereit sein. Auch Datura (Stechapfel) wurde in alter Zeit mit dem Mysterium des Todes in Verbindung gebracht, wie Herman de Vries wohl weiß. Nun diese Aspekte auszuleuchten und einzubilden, einzublenden ins Mysterium vom Diesseits wäre immerhin ein hoher Anspruch an die Kunst, was einen Künstler wie Herman de Vries doch eigentlich gar nicht in den Schatten stellen kann. Hic Rhodus: Öffne das Paradies!

Thomas Illmaier

Thomas Illmaier: Rauschzeit. Berlin, 1997, S. 145-147.


 

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