Michael Venezia Die Spur des Menschen

Eine Frau, die auf die fünfzig zugeht, hatte bis dahin noch keinen Orgasmus erlebt. Der sie behandelnde Arzt, ein bekannter Schweizer Psychiater, gab ihr den beruhigenden Rat: ,,Der Orgasmus findet im Kopf statt. Im Gehirn werden die Reize höchster Lust zuerst koordiniert, und dabei kommt es auf Bewußtsein und Einstellung an, bevor der Körper die Dimension der lösenden, ekstatischen Offenheit erfährt, die man für gewöhnlich Orgasmus nennt.
Vieles von dem, was der Psychiater bei Sinnlichkeitsblockaden rät, läßt sich mutatis mutandis auf die Kunst von Michael Venezia anwenden. Denn bevor seine Kunst irgendein Objekt berührt, kann, wenn auch nicht der Arzt, so doch der Phänomenologe folgendes konstatieren, wenn er den künstlerischen Akt der mit der Spritzpistole gearbeiteten Werke Venezias ansieht. In den Worten Venezias: ,,Ich beobachte – von Anfang an – eine gewisse Formbildung geschieht – die ausströmende Luft (der Spritzpistole) bringt einen zischenden Ton hervor – es gibt einen Aufprallwinkel, und aus diesem und anderen Faktoren des Auftrags ergibt sich eine Zeitdauer, die gemessen werden muß – nicht mechanisch – sondern mit Instinkt, Auffassungsgabe und den Augen – dann, innerhalb von Sekunden, beginnt ein zweiter Sprühvorgang, und meine ,Maße‘ werden erinnert und geprüft – Hören, Beobachten, Auffassungsgabe und Instinkt sind untrennbar, ich versuche die Vorgabe ,wiederzugeben‘ (mein Wort) oder zu ,imitieren‘ (dein Wort).“
Auf diese Weise, und zwar im Gehirn werden die Bedingungen der Kunst von Michael Venezia geschaffen, bevor er das 50.000 Dollar-Werk noch nicht einmal selbst berührt hat – und auch nicht berührt. ,,I like this notion“, sagt er, Kunst wie einen Hauch zu formen, ohne das sie tragende Objekt dabei zu berühren.
Anders hält Venezia, der als einer der bedeutendsten US-amerikanischen zeitgenössischen Künstler gilt, es mit den Stäben, die er bemalt. Über diese Kunstidee, das Bemalen feiner Holzstäbe, ist bis jetzt noch nicht der Stab gebrochen: Er bleibt ihr seit 1970 treu und variiert mit allen Zeichen der Minimal Art den Farbauftrag der Stäbe wie auch die Stäbe selbst.
Michael Venezia stellte seine ,,Paintings“ im Kunstmuseum Winterthur im Sommer 1996 aus. Um dem Publikum in Deutschland – Venezia stellte gleichzeitig in Münster und Wuppertal, Frühjahr 1997 aus – Venezias Kunst schmackhaft zu machen, warb der renommierte Wuppertaler Galerist Rolf Hengesbach mit einem Motiv von Hiroshige (1797 bis 1858) auf der Einladungskarte. Der alte Japaner konnte bereits in seiner Zeit zeigen, wie man das Bewußtsein lenkt, ohne dabei den Körper zu berühren. Die Materie fügt sich dem Hauch des Geistes; die scheinbar unsichtbare Hand weist dennoch quasi erzählend und die Kunstgeschichte kommentierend die Spur des Menschen nach.
Ich interviewe Michael in der Galerie: ,,Is your art influenced by psychedelics?“ Michael stutzt, dann lacht er: ,,No!“ Ich bohre weiter: ,,What about Buddhism in your art?“ Er wird jetzt ernster: ,,No, no“ und zieht sich schon zurück. Er drückt mir zum Abschied seine Visitenkarte in die Hand.

Thomas Illmaier

Thomas Illmaier: Die Steppe. Vogtsburg-Bischoffingen, 1999, S. 148-149.

 

Seite Drucken zur Übersicht | Startseite