Sylvia StuhrThomas Illmaier
Gegen das Vergessen
Ausstellung „Corpusculum“ wurde in der Gedenkkapelle eröffnet

Zersplitterung heißt ein uraltes chinesisches Zeichen aus dem wohl über dreitausend Jahre alten „Buch der Wandlungen“, dem I Ging, in dem die altchinesische Religion und Naturverehrung festgehalten worden sind. Was die Chinesen an Weisheit zu bieten haben, steht im I Ging.
Mit Zersplitterung kann man auch jenen Weltprozess im 20. Jahrhundert beschreiben, der in der bildenden Kunst und in der Musik vorausgesehen wurde, nämlich im Zerbrechen der Form durch den Expressionismus und in der Atonalität, ja Antitonalität (Otto Klemperer) der Musik. Kostproben von Arnold Schönberg, Hanns Eisler u.a. bot das Ensemble von Musikpreisträgern unter der Leitung des Rendsburger Dirigenten Christian Gayed mit seiner musikalischen Einführung „Gegen das Vergessen“, anlässlich der Jährung von Kriegsende und Vernichtung der Naziherrschaft, im Kleinen Schillertheater am Sonntag, dem 23. April in Geesthacht. In jener Stadt also, die bis 1945 den damaligen „Kriegsmusterbetrieb“, das Werk Krümmel der Dynamit Nobel AG, gigantischen Ausmaßes barg.
„Gegen das Vergessen“ richtet sich auch die im Anschluss an die Musik eröffnete Ausstellung „Corpusculum“ von Sylvia Stuhr in der Gedenkkapelle auf dem alten Friedhof der Stadt Geesthacht, ein würdiger, angemessener Ort, der ungeheuren Völkervernichtung des Zweiten Weltkrieges mit seinen weltweit 50 Mio. Toten zu gedenken.
Sylvia Stuhr installierte in der Gedenkkapelle einen Ausschnitt ihrer Skulpturengruppe „Corpusculum“, eines künstlerisch scharfen Affronts gegen das Vergessen, in dem zerfetzte Leiber, abgerissene und zur Schau gestellte Gliedmaßen an die Zersplitterung der Welt des 20. Jahrhunderts erinnern. Frau Stuhr wollte mit ihren plastischen Nachbildungen jedoch nicht mit dem Schrecken von Auschwitz wetteifern, jedenfalls nicht in der Gedenkkapelle. Im sakralen Raum bot Sie, auf Sand gebettet, ein kleines Bataillon menschlicher Körper, die alle aussahen wie jeweils ein Kokon, aus dem die Seele wie der Schmetterling entflogen war.
Ausstellung „Corpusculum“ in der Gedenkkapelle Geesthacht, Alter Friedhof, Berliner Straße bis 29. Mai 2005, Sa. + So, 14.30 – 17.00 Uhr; Info-Tel.: 04152-83 62 58. Katalog zur Ausstellung 10,00 €.

Originaltitel: Die Zersplitterung. Zur Ausstellung „Corpusculum“ in der Gedenkkapelle in Geesthacht.

Nordelbische Kirchenzeitung, 24/2005, S. 24.

Foto: Svetlana Zunder, Serie "Gedenkkapelle Geesthacht", Ausschnitt, 2005.

 

 

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