Deutsch-russische Universitäts-Partnerschaft zwischen Dortmund und Rostow am Don
Historie macht Geschichte
Von THOMAS ILLMAIER

Zwar reichen die Verbindungen zwischen den Universitäten Dortmund und Rostow am Don zurück bis in die siebziger Jahre, aber erst 1991 ist ein Partnerschaftsvertrag zwischen den beiden Hochschulen unterzeichnet worden. Er sieht vor, daß regelmäßige Besuche, Austauschprogramme und gegenseitige Unterstützung, etwa durch Bibliotheksaufstockung, wirksam werden.
Was verbindet Rostow-na-Donu, so der russische Name, mit Dortmund in Westfalen? Es ist zunächst der Industriestandort. Rostow liegt inmitten einer Industrieregion am Asowschen Meer, ähnlich wie Dortmund in Nordrhein-Westfalen. Doch im Gegensatz zu Dortmund, der bereits im zwölften Jahrhundert bedeutenden, dann zur freien Reichsstadt erhobenen Stadt, wurde Rostow erst im Jahr 1761 gegründet. Es entwickelte sich schnell zu einer wohlhabenden Kaufmannsstadt; 1846 wurde die erste Fabrik eröffnet, knapp drei Jahrzehnte später die erste Brauerei in Betrieb genommen. Heute zählt die Industriestadt rund eine Million Einwohner; sie ist Verwaltungsmetropole und ein Zentrum der Forschung, der industriellen Planung und des Landmaschinenbaus. An ihrer Universität, der drittgrößten in Rußland nach Moskau und St. Petersburg, sind zwölftausend Studierende immatrikuliert, die Dortmunder Alma mater zählt fast doppelt soviele Studenten.
Vor einem halben Jahr besuchte Klaus Goebel, Direktor des Historischen Instituts der Universität Dortmund, die Partner-Hochschule. Das Interesse seiner russischen Fachkollegen richtete sich besonders auf die deutsche Geschichte zur Zeit der Weimarer Republik. Dieses Interesse kam nicht von ungefähr, denn man glaubt, im Deutschland der zwanziger Jahre eine historische Parallele zur derzeitigen Situation in Rußland sehen zu können.
Der Gegenbesuch seines Kollegen Igor Uznarodow, Dekan der Historischen Fakultät der Russischen Staatsuniversität Rostow, war entsprechend auch auf die geschichtliche Entwicklung des Ruhrgebiets gerichtet. Um dem weitgereisten Gast aus der russischen Industrieregion einen Einblick in das vor- und frühindustrielle Gewerbe des Ruhrgebietes zu gewähren, wurde er in die wiederaufgebauten Werkstätten und Fachwerkhäuser im Hagener Mäckingerbachtal, ein Museum für technische Kulturdenkmale, geführt. Dort ergab sich ein nicht vorgesehener Gedankenaustausch mit dem Druckermeister, als dieser sich einiger russischer Worte erinnerte. Er hatte als Junge gegen Kriegsende russische Fremdarbeiter kennengelernt, die seine Eltern zu Hause versteckt hielten.
Der Nachholbedarf an ,,geistiger Nahrung“ ist an den Universitäten Rußlands sehr groß. Das Personal wurde nach der Wende ja nicht ausgewechselt. Man orientierte sich um. Jahrzehntelange Isolierung Rußlands und der anderen ehemals sowjetischen Teilrepubliken von der geistigen Welt des Westens soll jetzt so schnell wie möglich überwunden werden. Das Dortmunder historische Institut hat darum dazu aufgerufen, nicht mehr gebrauchte, aber neuwertige Literatur, vor allem aus Geschichte und Germanistik, für Rostow zu spenden – die Wissenschaftsliteratur, die das Bundesbildungsministerium jetzt für russische Bibliotheken zusammengestellt hat, erhalten Hochschulen und Akademien in Moskau, St. Petersburg, Tomsk, Nowosibirsk, Wolgograd und Jaroslavl.
Gefragt sind auch Titel zur Religion. Denn obwohl für Rußlands Universitäten keine theologischen Fakultäten im Gespräch sind, interessiert man sich doch für die Einrichtung religionswissenschaftlicher Fachbereiche. Das wäre ein großer Fortschritt in einem Land, in dem Atheismus zeitweilig universitäres Lehrfach war.
Die junge Partnerschaft der deutschen und der russischen Universität kommt langsam in Gang. Für diesen Sommer ist der erste Studentenaustausch geplant. Zwanzig Dortmunder Studierende aus den Bereichen Geschichte, Literatur und Journalistik werden vierzehn Tage lang in Rostow am Don weilen, anschließend kommen russische Studenten nach Dortmund. Von diesem Austausch sind interessante Impulse für Forschung und Lehre zu erwarten. Während ihres Aufenthalts in Rostow können die Deutschen an den Grabungskampagnen von Tanais, der nordöstlichsten antiken griechischen Siedlung, teilnehmen – Tanais ist auch der alte griechische Name für den Don.

RHEINISCHER MERKUR, 28. Mai 1993.

 

 

 

 

 

 


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