Jünger, Ernst Kein Grund zum Feiern

Die Gesamthochschule (GHS) Wuppertal feierte ihr zwanzigjähriges Bestehen in einem Festakt in der Unihalle am 8. und 14. Oktober 1992. Die Gesamthochschulen in Siegen, Essen, Paderborn und Duisburg feierten gleich mit; denn sie alle wurden zwanzig Jahre alt.

   Ursprünglich sollte das Modell der Gesamthochschulen deutschlandweit Nachahmer finden. Gustav Heinemann, SPD-Bundespräsident, hatte die GHS bundesweit als Regelhochschule empfohlen. Gestützt auf den deutschen Wissenschaftsrat, höchstes Gutachtergremium der Bundesrepublik Deutschland, empfahl Heinemann den Bundesländern, Städten und Gemeinden, das Konzept der Gesamthochschulen in Deutschland zu verwirklichen.

   Nach dem Krach der 60er Jahre, den Krawallen, die sich aus dem Bildungsnotstand ergaben, schien das Konzept der GHS geeignet, die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen und Forschung und Lehre voranzubringen. Und nicht zuletzt aus finanziellen Gründen taten sich Fachhochschule, Pädagogische Hochschule, Werkkunstschule und die neu gegründete Universität zur GHS Wuppertal zusammen. In der Selbstverwaltung der GHS kamen Hochschullehrer, Verwaltungsleute und Studenten erstmals an einen Tisch. Mehr Demokratie und Mitbestimmung sollten auf diesem Wege praktiziert werden, aber es dauerte nicht lange.

   Der Professorenklüngel wehrte sich: Das Bundesverfassungsgericht wurden angerufen, um zu verhindern, dass Studenten künftig mitentscheiden können. Und sie hatten Erfolg. Von Mitbestimmung ist an der Gesamthochschule heut keine Rede mehr. Die Professoren haben in dem entscheidenden Gremium, dem Senat, das Übergewicht. Ohne Professoren läuft dort nichts.

   In den einzelnen Fachbereichen sind die Studenten genauso entmachtet. Am Fachbereich 13 /Elektrotechnik der GHS Wuppertal sitzen sich acht Professoren, zwei Studenten, zwei wissenschaftliche und zwei nichtwissenschaftliche Mitarbeiter gegenüber. Ein Verhältnis von 8:2:2:2 also.

   Was aber läuft mit den Professoren? Vor allem die großen Renommierprojekte, die Institute und Forschungsvorhaben. Sei es das Weltraumforschungsprojekt „Christa“ unter der Leitung von Prof. Offermann oder die Editionsforschung, die Kafka und Böll ediert. Nicht zu vergessen Märchenforscher Heinz Rölleke, der die Brüder Grimm der Öffentlichkeit im immer neuen Lichte zeigt.

   Die Gesamthochschulkonzeption konnte sich letztlich nur in Nordrhein-Westfalen (NRW) durchsetzen, abgesehen von Kassel, das in Hessen liegt. In allen anderen Bundesländern wurde die GHS zu Grabe getragen. Dass das Modell der GHS in Nordrhein-Westfalen überlebte, und das nur mit Abstrichen, hatte das Land seinem ehrgeizigen Ministerpräsidenten Dr. h.c. Johannes Rau zu verdanken. Rau, er politischen Finesse kundig, stellte 1969 als ehemaliger Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal den Antrag auf Errichtung einer Universität-Wuppertal. Als er 1970 Wissenschaftsminister des Landes NRW geworden war, gab er seinem eigenen Antrag vom Vorjahre statt. Der Bau konnte beginnen.

   Im Wintersemester 1972/73 kamen die ersten 3.000 Studenten an die GHS-Wuppertal. Konzipiert war die GHS für 8.000; im Jahr 1992 studierten dort bereits 18.000 Studenten. Der enorme Zuwachs an Studierenden war dabei nicht dem Konzept der GHS zu verdanken, das auch Studierwilligen ohne Hochschulzugangsberechtigung das Universitätsstudium ermöglichen sollte. Seitdem stürmten die Studentenmassen mit Abitur alle bundesdeutschen Hochschulen. Einzelne Fachbereiche hattenen Zulassungsfristen gesetzt, um diesem Bewerberansturm zu begegnen. Wer sich für den Studiengang Elektrotechnik bis zum 15. Juli nicht eingeschrieben hatte, wurde für das Wintersemester nicht mehr zugelassen. Mit internen Zulassungsbeschränkungen wird der numerus clausus umgangen, obwohl das der sozialdemokratischen Vorstellung von Chancengleichheit widersprach. Trotzdem kam es zu einer katastrophalen Raumnot. So schrieben 800 Studenten der Wirtschaftswissenschaften in der Unihalle ihre Klausuren. Massenabfertigung. Würde sich etwas ändern? Uni-Sprecher Michael Kroemer: „Es geht ja auch so.“

   Wie auch in Bonn, dem damaligen Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland, wurden die schlimmsten Probleme durch Aussitzen geregelt. Die Misere wurde verwaltet, aber nicht bereinigt. Um dem Massenandrang die Krone aufzusetzen – schließlich musste Wuppertal als Universitätsstadt interessant bleiben – war ein Studiengang Medizin geplant. Beratungsergebnisse und Schriftwechsel waren noch geheim, worüber sich der Allgemeine Studentenausschuss (AStA), das leider ohnmächtige Organ der Studentenschaft, am meisten aufregt.

   Das Geld war knapp. Das bekam auch die Universitätsbibliothek zu spüren. Von einem Buchbestand von ca. 1.000.000 Bänden war gut reden, aber wo sollten die vielen Bücher hin? 1983 wurde der erste Antrag  auf Aufstockung der Bibliotheksfläche gestellt. Dem Antrag wurde auch nach zehn Jahren nicht stattgegeben. Die Universitätsbibliothek mit einem Zuwachs von 30.000 Büchern pro Jahr, damit dem wissenschaftlichen Standard genügt wurde, musste ihre Kapazität auf Kosten der Leseplätze erhöhen. Bei Eröffnung der Universität waren für 8.000 Studenten 900 Lesplätze in der Bibliothek vorhanden. Inzwischen waren es gerade noch 400 Lesplätze für 18.000 Studierende! Die Stellkapazität für Bücher würde 1994 endgültig erschöpft sein.

   Nichtsdestoweniger hat diese Universität Genies hervorgebracht. Gemeint ist z.B. der Mathematiker Gerd Faltings. Er bewies 1983 die Modellsche Vermutung, ein mathematisches Problem, an dem seit der Jahrhundertwende Generationen von Mathematikern gearbeitet hatten, ohne es zu lösen. Faltings gelang der Geniestreich. Anders als in Deutschland berichteten amerikanische Medien von dieser wissenschaftlichen Meisterleistung. Faltings war in Amerika bald berühmter als in Wuppertal. Princeton, Berkeley und Havard bemühten sich um ihn; Faltings ging nach Princeton, wo Einstein, Wheeler u.a. gelehrt hatten. Besonders die Philosophen, unter ihnen Klaus Held, waren grün vor Neid. Wie konnte dieser junge Dozent – wie hieß er doch gleich – solch unbewiesene und für die meisten unverständliche mathematische Entdeckung machen. Held ließ seinem Neid in seinen Seminaren freien Lauf. Zwar konnte Held inzwischen durch Reiseberichte auf philosophischen Straßen, deren Manuskripte der Reclam-Verlag kaufte, glänzen; an den Ruhm Faltings kam er nicht heran.     

    Doch gelegentlich macht auch die Philosophie von sich reden. Aus taktischen Gründen geben sich die Philosophen der GHS als „Wuppertaler Schule“ aus. Ein junges aufstrebendes Talent wurde 1985 aus der akademischen Laufbahn gekippt. Janke, Prof. der Philosophie am Fachbereich 2, schrieb dem Kandidaten ins Gutachten der Magisterarbeit: „Nach meinem Urteil qualifiziert sich die Arbeit durchaus zu einem ermutigenden Abschluss für eine literarisch-essayistische Beruftätigkeit (freilich nicht für eine wissenschaftliche Laufbahn innerhalb der »Wuppertaler Schule«). Ich empfehle de Fakultät die Annahme der Magisterarbeit mit dem Prädikat: Sehr gut.“ Die Empfehlung wurde angenommen, der Kandidat erhielt die Eins. Freilich konnte er in Wuppertal wegen des Verdikts der „Wuppertaler Schule“ an der GHS nicht promovieren. Als „Ecrivain“ konnte er auch bei keiner Zeitung oder einem Verlag landen. Ernst Jünger, berühmter deutscher Schriftsteller und Mitterand-Intimus, schrieb dem Kandidaten: „Dagegen bedaure ich, dass er (Prof. Janke) die wissenschaftliche Laufbahn für Sie nicht rätlich hält. Die Universitäten brauchen zur Belebung gerade Außenseiter wie Sie.“ – Das aber fiel den dilettierenden Hochschulprofessoren Janke und Held gar nicht ein. Stattdessen rechneten sie zur „Wuppertaler Schule“ noch Karl Albert, von dem alle seine Studenten das Eine lernten: dass er zu Fuß aus russischer Kriegsgefangenschaft floh.

   Der Trend, die Gesamthochschule, besonders die technischen Fachbereiche immer enger an die Industrie zu binden, machte die Gesamthochschulen zu Filialen der Industrie. Die kostspieligen Projekte der GHS Wuppertal, die Institute für angewandte Informatik (IAI), das Institut für Robotik (IFR) und andere  waren ohne Drittmittel der Industrie nicht lebensfähig. Stolz wurden die Zahlen vorgeführt: „In enger Zusammenarbeit mit der Industrie initiieren sie (Lehrende und Studierende des Fachbereichs 5 /Design) mit ihren Design-Entwürfen jährlich rd. 2,8 Milliarden DM Umsatz“ (Bazon Brock). Kein Wunder, dass die Geisteswissenschaftler, die keine zahlende Industrie hinter sich hatten, unwillig auf Etatkürzungen und dürftige Studienprogramme reagierten.  

   Der AstA hielt das Konzept, die Idee wenigsten, der GHS immer noch für das Beste, um Studierwilligen die Hochschule zu öffnen, auch wenn sie kein oder kein vollwertiges Abitur hatten. Gegen diese Abwertung des Abiturs waren die konservativen Bildungspolitiker aller Bundesländer Sturm gelaufen. Dass das Projekt der GHS bundesweit gescheitert war und auch in NRW – der Finanznot sich beugend – nicht weiterentwickelt wurde, lag auch an der Provinzialität der Wuppertaler. Eine Universität zu haben, Universitätsstadt zu sein, ist ein feines Renommee! Aber dass dafür auch Opfer gebracht werden mussten, fiel niemandem ein. Es fehlten nach wie vor – nach zwanzig Jahren Universitätsstadt immer noch! – ausreichende Unterkünfte für Studierende. Die Wohnsituation in Wuppertal war katastrophal, 800.- DM für ein Zimmer keine Seltenheit. Dabei wäre es denkbar gewesen, die Überschüsse der Stadtsparkasse – wie das in der Tat in Paderborn geschah – für den Ausbau von studentischem Wohnraum zu verwenden. Selbst leerstehender Wohnraum wie in der Sagan-Kaserne oder in der Generaloberst Höppner-Kaserne wurde nicht für studentischen Wohnraum genutzt, weil Außenstellen der Uni-Institute bei der Belegung Vorrang beanspruchten.

   Die Raumnot war inzwischen so groß, dass die Universitätsleitung sich genötigt sah, Gott anzurufen. Seit kurzem wurde die Paulskirche an der Pauluskirchstraße in der Woche von ca. 800 Studenten des Fachbereichs 11 /Bautechnik belegt. Sonntags fanden dort Gottesdienste statt. Es zeigte sich ja: „Es geht auch so.“

   Es ging auch so, und die Studenten waren’s zufrieden. Nach Meinung des AstA-Vorsitzenden Boeker hülfe nur massiver studentischer Protest. Aber die Studenten machten nicht mit. Sie empfanden die Nachwuchspolitiker des AStA als Störenfriede des Unialltags. Einzelkämpfer waren gefragt: Jeder holt für sich heraus, was er kann. Egoismus ist gefragt.

   Was blieb vom GHS-Konzept der Chancengleichheit und der niedrigen Anlaufhürden noch übrig angesichts des katastrophalen Unialltags? Was würden sie am 9. und 14. Oktober 1992 in der Unihalle feiern? Den Namen, wie es scheint, der von der Idee der GHS noch übrig geblieben war.

Thomas Illmaier

Wupper Nachrichten, 17/1992, S. 3.