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Jünger, ErnstThomas Illmaier

Der Kristall
Elementargeschehen und Metaphysik bei Ernst Jünger

 

 

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Einleitung

Der Kristall

Der Kristall ist ein Grundwort nicht nur der folgenden Untersuchung, sondern im Werk Ernst Jüngers überhaupt. Für Ernst Jünger stellt sich die Frage, ,,ob nicht die Welt im Großen und Kleinen überhaupt nach dem Muster der Kristalle gebildet sei –“. Zur Beantwortung dieser Frage konzentriert sich die vorliegende Arbeit auf Ernst Jüngers essayistisches Werk. Dabei können Bezüge auf seine erzählenden Schriften sowie auf seine Tagebücher nützlich sein und ein tieferes Verständnis der vorliegenden Thematik erschließen. Der Methode Ernst Jüngers entsprechend folgen wir einem synoptischen Vorgehen, worin das Grund- oder Elementargeschehen als Struktur des Ordnungsgeschehens sichtbar wird, das nicht nur Anlaß zur genannten Fragestellung gibt, sondern mit ihr in einem Zusammenhang die Konzeption einer neuen Freiheit entwirft, welche in den Linien, d.h. den Grenzen unserer geometrisch-technischen Welt – das ist die Ordnung des Kristalls – mehr als utopischen Rang einnehmen kann.

Das Elementargeschehen

Das Elementar- oder Grundgeschehen ist dadurch gekennzeichnet, daß es in seiner Bewegung sowohl in die geistig-seelischen als auch in die Schichten des kosmischen Haushaltes und damit der Erde eingreift. Die Seiten des Elementargeschehens stehen in einem akausalen, spiegelbildlichen Verhältnis zueinander, das als die Projektion desjenigen Urbildes verstanden wird, das die Universalia in re zum Ausdruck bringt. Die Universalia in re sind ein kosmisches Urbild, deren Totalität heute unseren Planeten in Form der Technik umspannt. Die Technik ist ,,projizierter Geist“, in dessen Bann heute dem Menschen im Rückstrahl seiner eigenen Projektionen Versteinerung, Vererzung, ,,die magische Erstarrung“ droht. Ob sich dieser Prozeß des Elementargeschehens ,,unbemerkt und selbstverständlich“ oder ,,unter Konvulsionen“ katastrophal vollzieht, hängt von der Entwicklung des Elementargeschehens in der Ordnung des Kristalls selbst ab: Wie weit sind die Universalia in re, die reinen geometrischen Urformen in der Ordnung unserer Welt, bereits zum Ausdruck gekommen?

Die Metaphysik

Die Metaphysik ist ein Deutungsgeschehen. Sie vermittelt Deutungskonzepte der Naturwissenschaften mit theologischer Exegese. Zwischen dem Naturwissenschaftler und dem Theologen ist der Metaphysiker der ,,Hinzutretende“. Er vermittelt ein Drittes, auf dessen Sein sowohl die Theologie als auch die Naturwissenschaften angewiesen bleiben. Die Universalia in re, die reinen geometrischen Urformen, bringen eine kosmische Harmonie zum Ausdruck und sind sowohl für den Theologen als auch den Naturwissenschaftler ein letztes und von vornherein Gegebenes. Auf sie wird sich der Metaphysiker als ,,der Hinzutretende“ stets gültig beziehen können. Die Quelle der Universalia in re verlegt Ernst Jünger in den Urgrund, den ,,Stempel“ – eine Konzeption, die der Mensch durch Intuition aus sich heraus, d.h. durch spiegelbildliche Projektion als ,,Prägung“ vorweisen und die mit kosmologischen Konzepten der Theologie als auch der Naturwissenschaften zusammengehen kann. So erhält auch der Materialismus in seiner konsequentesten und ausgearbeitetsten Form, die Naturwissenschaften und Theologie zusammen vermittelt, eine materiale Basis, die später schichttheoretisch ausgearbeitet wird. Das für Ernst Jüngers Spiegeltheorem notwendige Projektionsverhältnis ist von Schopenhauer entwickelt worden. Schopenhauer sah, daß ,,sämmtliche Erkenntnis-F o r m e n . . . nach außen projicirt“ werden und so ,,die objektive anschauliche Vorstellung entsteht“. Das ist die Welt als Vorstellung. Durch Projektion der Erkenntnis-F o r m e n können die Universalia in re aufleuchten. Der Projektionsvorgang von innen nach außen ist die Welt als Wille, der sich vergegenständlicht, vorstellt. Ernst Jüngers ,,Wille zur Gestaltung“ ist, was die erkenntnistheoretische Seite und die Erbschaft eines ganz bestimmten Erkenntnisstils betrifft, der sehend begreift, Schopenhauer verpflichtet. „Man kann sich erst dort von der Metaphysik dispensieren, wo die Universalia in re aufleuchten.“ Dies ist einer der zentralen Sätze im Werk Ernst Jüngers; denn wird die kosmische Ordnung transparent, bedarf es streng genommen keiner Metaphysik mehr. Über diesen Punkt kam auch Mietzsche nicht hinaus, dem Ernst Jünger ebenso verpflichtet ist. Nietzsche sah in der Wiederkunft des Ewig Gleichen einen Kreislauf, aus dem es kein Entschlüpfen gab: Einen Kreis. Das heißt, er war in den Gegenstand seiner Konzeption eingetreten, und eine Urform des Elementargeschehens, eines der Universalia in re, wurde ihm bewußt durch Intuition. Philosophiegeschichtlich hält die Konzeption der Universalia in re die mittlere Position, die des Abälard. Für eine Wiederbelebung des Universalienstreites spricht sich Ernst Jünger wiederholt aus.

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Die elementare Ordnung

Unter dem Druck des Elementargeschehens kristallisiert die Materie. Diesen Vorgang nennen wir ,,die Konzeption der Gestalt“. Die Konzeption ist auf Geburt, auf Entäußerung, auf Multiplikation ihrer Prinzipien angewiesen. Sie verwandelt das Elementargeschehen in ein Ordnungsgeschehen. Seine Tendenz richtet sich auf die totale Vergegenständlichung ihrer Form bildenden Prinzipien: Die Ordnung des Kristalls. Bewußt werden uns die Universalia in re, die res gestae dieser Ordnung durch a) sehen; b) arbeiten; c) organisch konstruieren. Diese Akte begleiten die Geometrisierung des Elementargeschehens oder rufen sie aktiv hervor. So gelingt auch die materiale Vorweisung der Universalia in re, ihr Aufleuchten im Urbild des Kristalls. ,,Das Urbild ist Bild u n d Spiegelbild.“ Es prägt typische Formen architektonischer Verhältnisse der Materie. Jede Bewegung ist dann bereits Bewegung des Maßes, das ,,die Gebilde wie Gewächse aus dem Boden treibt oder sie nach kristallischen Gesetzen zusammenschießen läßt.“ Dann erkennen wir, daß das Elementargeschehen sich in das Ordnungsgeschehen verwandelt hat. Das Anschießen des Kristalls ist das Vorbild jeder organischen Konstruktion, einer Eisblume genauso wie des pyramidenhaften Aufbau des Staates und jenes Typus von Mensch, der von feuerfester Natur ist und dem Elementargeschehen gewachsen. Ihn nennt Ernst Jünger „den Arbeiter“, und in ihm vollzieht sich die Konzeption der Gestalt, die spiegelbildlich und damit total die elementare Ordnung vergegenständlicht.

Die Setzung

Das Elementargeschehen instrumentiert denjenigen Menschen, der sich ihm gewachsen zeigt (29). Wem die Gestalt zuwächst, wer sie erträgt, der ist für Ernst Jünger „der Arbeiter“. Das Wort ,,Arbeiter“ kann in dreifacher Hinsicht gebraucht werden, zur Benennung a) der Erscheinung; b) des Typus; c) der Gestalt. Erscheinung und Typus verhalten sich wie Bild und Spiegelbild, die sich im Urbild der Gestalt vereinigen (30). In ihr kommt ein Sein zum Ausdruck, das wir schichttheoretisch in einer sehr tiefen Schicht suchen müssen, in der die anorganischen mit den organischen Bildungen des Urgrundes verschmelzen. Das weist den Arbeiter als kein Oberflächenphänomen aus, sondern zeigt ihn tief in der Materie gegründet. An die Gestalt des Arbeiters können mythische Reiche anschießen aus einer tiefen geologischen Schicht der Seele. In der Projektion erscheint der Arbeiter dann als Antaios, als mächtigster Sohn der Erde, dessen ruhende Gestalt die Welt mit Hilfe der Technik mobilisiert. Er ringt dabei jeden nieder, der ihm auf seinem Gebiet, der Erde, in die Quere kommt. Das war das Schicksal des bürgerlichen Individuums, wie es Ernst Jünger in seinem 1932 erschienenen Buch „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“ beschreibt. Das eigentliche Ziel des Arbeiters heißt ,,Erdvergeistigung“, die Realisierung der Universalia in re, d.h. die Setzung kristallischer Erscheinungsformen. Er tut dies im Auftrag der Erde, des Ur- oder Weltgrundes, und ist ihr klügster und mächtigster Sohn.

Die Konzeption der Gestalt

Die Erde bedient sich also ihres mächtigsten und klügsten Sohnes, indem sie ihn durch das Elementargeschehen instrumentiert, das auf Erdvergeistigung zielt. Rivarol drückt das in einer Maxime, der verschiedene Aussagen Ernst Jüngers korrespondieren, wie folgt aus:

Macht ist organisierte Kraft, Verbindung der Kraft mit einem Organ. Das Weltall wimmelt von Kräften, die, um Macht zu werden, auf der Suche nach Organen sind. Der Wind, das Wasser sind Kräfte; durch ihre Wirkung auf eine Mühle oder eine Pumpe, die ihnen als Werkzeug dienen, werden sie Macht.

Der Arbeiter nun ist ein solches Organ, dessen sich die Elementarkraft bedient, wie sie auch die Erde birgt. Diese Elementarkraft wächst dem Arbeiter zu, sie wird empfangen, konzipiert. Das ist der Sinn der conceptio, den Ernst Jünger der Konzeption der Gestalt des Arbeiters zugrunde legt. Als Organ mächtigster Erdkräfte entspricht der Gestalt des Arbeiters ,,eine auch heute noch unvorstellbare Energiefülle, die um ein Zentrum geordnet ist.“ Dieses Zentrum ist die Gestalt des Arbeiters als Prinzip, ist arché, woher die Dinge ihren Ausgang nehmen, ist der Stempel, der der Welt ihre typische Prägung verleiht, die wir heute im geometrischen Weltstil der Technik bewundern oder befürchten mögen. Doch ist dieses Zentrum ,,der ruhenden, unausgedehnten Macht“, das die Ordnung des Kristalls setzt, überall, was die Dinge und den Arbeiter selbst typisch prägt.

Sehen

Während die Konzeption der Gestalt als die weibliche Seite des Vorgangs der Prägung des Kristalls betrachtet wurde, die auch unbewußt vor sich gehen kann, entspricht dem Vorgang die männliche Seite, die der Intuition. Ernst Jünger nennt sie auch das „zweite Bewußtsein“. Dieses Bewußtsein ist das Phantasiebewußtsein. In ihm stellt sich die Konzeption der Gestalt bildhaft dar, sie ,,schlägt in Anschauung um.“ Während das „zweite Bewußtsein“ zunächst Vorstellung bleibt, d.h. ein Akt des inneren Sehens (50), durch den der Arbeiter in die Lage versetzt wird, ,,sich als Objekt zu sehen“, indem er in der Physiognomie seiner eigenen Erscheinung die Prägung des Kristalls deutlich erkennt, kann sich das ,,zweite Bewußtsein“ bis zur Vision steigern. Dann verbindet sich die Vorstellung mit der Anschauung, die den visionär erhellten Blick auf jene Punkte lenkt, in denen die Ordnung bereits kristallisiert. Um den ,,Punkt der Kristallisation“ zu erkennen, bedarf es also eines ,,stereoskopischen Blicks“, d.i. das Übereinanderschieben von Wahrnehmung und Vorstellung. Dann kann die typenbildende Macht intuitiv auch in der Erscheinung wahrgenommen werden. Der Beobachter erkennt dann, daß die sich entwickelnde elementare Ordnung sich nach Maßgabe der ,,Projektion von Urbildern in den der Wahrnehmung zugänglichen Raum“ vollzieht. Um sich dieses Vorgangs ganz bewußt zu werden, tritt der Beobachter zurück, um die Vorgänge in jenen Blick kälterer und nüchterner Distanz zu bringen, der ihn, ohne von Leidenschaften getrübt zu sein, den Vorgang als ein Ganzes auffassen läßt. Die Ordnung wirft sich wie ein Gradnetz über die Landkarte. Die geometrische Ordnung des Kristalls erwacht zunächst in den großen Städten mit ihren eintönigen Bewegungen inmitten ,,dieser strengen, den geometrischen Grundrissen der Pyramiden gleichenden Ordnungen“. Ihre Struktur ,,bietet sich in Bändern, in Geflechten, in Ketten und Streifen von Gesichtern, die blitzartig vorüberhuschen, der Wahrnehmung dar“. Verzichtet der Beobachter auf weitere Differenzierung, indem er noch weiter zurücktritt, um den planetarischen Umfang des Geschehens zu ermessen, wird er erkennen, daß sich in diesem Elementargeschehen ein schöpferisches Werk kosmischer Ausmaße vollzieht. Es erscheint der Umriß einer neuen, werdenden Gestalt der Erde, worin sich das Weltbild des Typus vergegenständlicht: ,,die gemeinsame kristallinische Struktur“. Belohnt mit der Transparenz, in die sich das Elementargeschehen ordnungsgemäß auflöst, erkennt der Beobachter deutlich, daß, gemessen an der mathematischen Gesetzmäßigkeit, mit der sich das Ordnungsgeschehen vollzieht, es keine Ausweichmöglichkeit mehr gibt, sich der werdenden Gestalt des Arbeiters und mit ihm der Ordnung des Kristalls zu entziehen. Das ist die ,,Tatsache, daß es nur e i n e Form gibt, in der überhaupt gewollt werden kann.“ Denn die Dinge spiegeln jene Strahlung wider, die der Geist zeugend in sie hineinschaut, d.h. die notwendig seine Maße tragen: ,,Es wird ein Wille zur Gestaltung offenbar, der das Leben in seiner Totalität in Form zu bringen sucht.“

Arbeiten

Arbeiten heißt, das Elementargeschehen mit Hilfe geometrischer Leitbahnen – seien sie intuitiv bewußt als Plan; konstruktiv in Lineal und Zirkel oder in der rhythmischen und geometrischen Ursprache der Technik manifest – in das elementare Ordnungsgeschehen zu verwandeln. Diesem Vorgang entspricht die Kristallisation der elementaren Ordnung, in der sich unser Weltbild vergegenständlicht und weltweit das Leben einer wachsenden Versteinerung unterwirft. Daran hat der Typus in all seinen entschiedenen Aktionen maßgebenden Anteil. Ihm kann er sich auch gar nicht entziehen, da die ,,typenbildende Macht des Universums“ im Menschen selber liegt und ihn mit der Totalität des elementaren Zugriffs instrumentiert. Demzufolge zerfällt der Arbeitsprozeß in zwei ineinandergreifende Phasen: eine destruktive und eine aufbauende Tätigkeit. Sind die alten Ordnungen zerstört, tritt der Arbeiter ,,als oberster Bauherr auf“. Auf diesem Wege realisiert er gemäß dem übergeordneten Willen zur Gestaltung die Urformen des elementaren Lebens: die reinen Formen der Geometrie, in der die Baupläne des Lebens gefaßt sind. Dann erscheint die Ordnung des Kristalls, wie wir das nach den großen Katastrophen im Weltstil der Technik, der Architektur usw. beobachten können.

Organisch konstruieren

Organisch konstruieren heißt, die Urformen der Weltordnung, geleitet ,,von jenem stereoskopischen Blick, der die Dinge in ihrer geheimeren, ruhenderen Körperlichkeit erfasst“, durch Arbeit zum Ausdruck zu bringen. So ,,wie die Massen des Urgesteins durch ihren Druck Kristalle hervortreiben“, so formieren sich z.B. auch große Menschenmassen unter dem Druck elementarer Kräfte. Die ansonsten eher amorphe Menschenmasse formiert sich, sie ,,schlägt in Kristallbildung um“. Die organisierende Kraft dieser Bildung ,,bedient sich mit Vorliebe anorganischer Elemente zum Aufbau organischer Konstruktionen“. Ernst Jünger vermutet, daß hier ,,Kräfte einwirken, die jenseits des Lebens hausen, Prägstöcke weniger einer anorganischen als einer überorganischen Weltordnung und ihrer Harmonie.“ Diese überorganische Weltordnung zeigt sich uns in den kristallischen Urformen: ,,Beim Anblick eines Strahlentierchens, einer Herzmuschel oder eines Seeigelpanzers“ wie markant in der organischen Konstruktion des 20. Jahrhunderts; denn sie ,,ist ein Gebilde kristallischer Art“. Sie zeigt sich uns in den Grundrissen des Typus des Arheiters; um ihn zu erkennen ,,mußten Verdichtungen, Kristallisationen hinzutreten“ – . Sodann im Typus menschlicher Siedlungen; dem Verkehrsnetz; der Architektur; dem pyramidalen Aufbau des Staates und der ihm ebenbürtigen Organisationen; den Heeresorganisationen und heeresartigen Gliederungen; wobei letztere von ganzen Bevölkerungen gewollt werden können als eine selbstauferlegte Diktatur, um ein katastrophales Elementargeschehen zu bändigen. Die organische Konstruktion als Ausdruck der überorganischen Weltordnung zeigt sich uns heute in zunehmenden Maße im Anblick der Technik und ihres geometrischen Weltstils.

Der utopische Vorgang

Unserer elementaren Ordnung, wie sie für die sich sichtbar abzeichnende Welt maßgebend ist, liegt ein Urbild zugrunde. Dieses Urbild wurde zum ersten Mal bewußt von Platon zum Ausdruck gebracht. Im Dialog ,,Timaios“ schildert er den Weltaufbau nach Art der Geometrie: Die Welt ist zusammengesetzt aus Elementardreiecken. Diese frühe Schöpfungsbild, das uns Gott als Geometer, den Demiurgen als ,,Formgeber“, zeigt, bleibt für die Folgezeit von großer und einflußreicher Bedeutung. In der Neuzeit ist es Kepler, der es wieder belebt. Keplers ,,Archetypus geometricus“ ist eine Idee oder ein Formbegriff, dessen sich Gott bedient, um die Welt more geometrico zu erschaffen. Der Archetypus wird von den Sinneserfahrungen ,,angelockt“, um mit ihnen zur Synthese zu gelangen. Dieser Vorgang heißt Erkenntnis, d.h. das ,,Zur-Deckung-Bringen von äußeren Eindrücken mit präexistenten inneren Bildern“. W. Pauli, der basierend auf der Tiefenpsychologie C. G. Jungs das Werk Keplers analysierte, schreibt dazu weiter:

Von einem inneren Zentrum aus scheint sich die Psyche im Sinne einer Extraversion nach außen zu bewegen in die Körperwelt, in der die Voraussetzung eine automatische ist, so daß der Geist diese Körperwelt mit seinen Ideen gleichsam ruhend umspannt.

Damit erhellt sich auch der Vorgang, wie ihn Ernst Jünger im ,,Arbeiter“ beschreibt:

Ebensowenig also, wie der Einzelne (...) als Individuum erscheint die Masse als Summe, als eine zählbare Menge von Individuen. Wo man ihr auch begegnen möge, es ist unverkennbar, daß eine andere Struktur in sie einzudringen beginnt. Sie bietet sich in Bändern, in Geflechten, in Ketten und Streifen von Gesichtern der Wahrnehmung dar, auch in ameisenartigen Kolonnen, deren Vorwärtsbewegung nicht mehr dem Belieben, sondern einer automatischen Disziplin unterworfen ist.

Das ist die Keplersche Vision als organische Konstruktion. Ausgeometrisierung der Welt, des Menschen, der Natur. Dieser ,,Wille zur Gestaltung“ im Sinne der Beherrschbarkeit der Welt, findet im Barock ein wichtiges Vorbild. Der absolute Herrscher geometrisiert seine Welt, in dessen Zentrum er regiert – sein Feldherrnzeichen ist der Obelisk – nach einem Muster, das uns aus den Utopien seit Thomas Morus, der Kanzler Heinrichs des VIII. war, also seit der Renaissance bekannter geworden ist. Die Utopien des Thomas Morus (Utopia, 1518), Tommaso Campanella (Civitas solis, 1623), des Marquis de Sade (Tamoé; 1795), Ernst Jüngers (Der Arbeiter, 1932) fußen auf dem Urbild der geometrischen Stadt, die das Vorbild für ,,die gerechten Maße“ unserer Städte abgibt. Sie erscheint offenbar als generatio aequivoca zum Beginn jeder großen Zeitwende. So wird sie Leitbild des Barock, als man versuchte, sie in jeder Hinsicht und mit allen Mitteln organisch zu konstruieren. Es fehlten lediglich die entscheidenden technischen Mittel, um die geometrische Stadt organisch im Weltmaßstab zu konstruieren. Diese Mittel sind heute weitestgehend gegeben. Was man im Barock noch nicht sehen konnte, weil bei allem pompösen Aufwand letztlich nur Modelle organischer Konstruktionen realisiert wurden, die der wildwachsenden Natur genügend Freiraum ließen, zeigt sich heute in dem, was Ernst Jünger die nihilistische Reduktion oder einfacher den Schwund nennt. Sie sind Folge einer utopischen Unterschätzung geometrischer Urbilder, deren Projektionen den Planeten systematisch in eine Planlandschaft verwandeln.

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Die symbolische Ordnung

Der geometrisch ausgemessene Planet konfrontiert den Menschen mit einer Reihe eindeutiger, typischer Spiegelbilder, von denen er sich umstellt sieht. In ihnen kommen die Ur- oder Grundformen immer deutlicher und reiner zum Ausdruck, bis dann die Universalia in re kristallisieren. Leuchten sie auf, geraten die Systeme unter Spannung, dann gerät die elementare Ordnung als Ganze in Bewegung. Sie wird leitend –: statisch und dynamisch zugleich in der Schwingung des Kristalls. Er wirkt vexierend und in seinen höchsten wie ausgeprägtesten Typen magisch. Dann nimmt die Ordnung symbolischen Charakter an.

Der Eintritt in den Gegenstand

Um die Wandlungsvorgänge innerhalb der symbolischen Ordnung im Sinne einer Erkenntniskritik fruchtbar zu machen, sei eine Passage aus „Sgraffiti“ angeführt:

Wenn die Betrachtung eine gewisse Spitze überschreitet, kommt es zu einem Umschlag des Bewußtseins ins Generelle; die Spannung sprengt die Isolierung und breitet sich feldmäßig aus. (...) Nicht nur der Künstler, sondern auch der Philosoph und der Historiker, wie überhaupt jeder, dessen Leistung über das Meßbare und Erlernbare hinausführt und die Konzeption berührt, ist auf Entäußerung angewiesen: sie ist seine geistige Hand, sein Werkzeug der Werkzeuge, sein vorformender Gang. Wir nennen diesen Akt ,,in den Gegenstand eintreten“. Zugleich tritt aber der Gegenstand in den Betrachter ein. Die männlichen und weiblichen Kräfte beginnen sich als Intuition und Konzeption zu decken; sie werden kongruent. Damit verändert sich nicht nur die Einsicht, sondern auch die Aussage.

Die magische Trigonometrie

Die Tendenz des Elementargeschehens, sich im Kristall zu fixieren, wobei die utopischen Einschüsse geometrischer Menschheitsphantasien diesen Prozeß noch beschleunigen (109), führt notwendig zur Verkrustung, zur Erstarrung. Das erleben wir weltweit; denn die Technik lastet mit Schwergewichten auf den organischen Gründen der Erde, und die organischen Konstruktionen greifen selbst in vegetatives Leben ein. Unter diesen Umständen wird der Mensch seine Wünsche, Ängste und Sehnsüchte auf diese Ordnung projizieren. Das wird notwendig so sein, so notwendig, daß der Mensch überhaupt träumen kann und muß. Dann werden Symbole projiziert. Symbole sind ,,Projektionen von Gestalten aus einer verborgenen Dimension...“ Mit Hilfe von Schwingungsmustern interferieren sie mit Bildern der Wahrnehmung in einer synoptischen Schau, die der stereoskopische Blick erlaubt. Auf diese Weise läßt sich die technische Elementarlandschaft auch symbolisch sehen, wenn wir in ihr die geometrischen Formen erkennen. So können wir trotz der kosmischen Strenge, mit der die Universalia in re die technische Formenwelt zum Ausdruck bringen, diese Formenwelt auch als ,,feierliche Vorhöfe des Universums“ betrachten; so wie wir alle ,,Kulturen, deren Stil die reine Form bevorzugt“, mit einer gewissen Scheu betrachten. Ernst Jünger führt das auf die Schrecken zurück, die ,,uns durch die Todesseite, die unerbittliche Gewalt“ entgegenleuchten: Wir wünschen uns die Universalia in re ,,verdeckt (...), begrünt, bemoost durch zeitliche, verwesliche Substanz.“ Wir anerkennen die Macht der Urformen z.B. an der ägyptischen Pyramidenwelt, doch ebenso an den ungeheuren Ausschnitten, die uns die Technik aus dem kosmischen Vorrat vorweist.

Der Zweifel

In ,,Anleitung“, einem Stück aus ,,Sgraffiti“, bringt Ernst Jünger seinen Zweifel an der Gutartigkeit geometrischer Ordnungen zum Ausdruck: Das Dreieck auf dem Kopf einer Schlange flößt ihm Furcht ein – trotz gegenteiliger Versicherungen des Vaters –, die Schlange könnte giftig sein. Die Grundstimmung der symbolischen Ordnung ist der Zweifel. Sie ist eine zwielichtige Ordnung. Hier hat der Zweifel jedoch seinen legitimen Ort, da er die Eindeutigkeit der elementaren Ordnung in Frage stellt: Sie wird mit Hilfe von Projektionen als die nicht einzig mögliche Ordnung erkannt. Durch den ,,vorformenden Gang“ mit Hilfe von Projektionen bewahren wir ,,uns vor Reproduktion“ der elementaren Ordnung; denn die ,,Geometrie der Vernunft verschleiert ein diabolisches Mosaik, das sich zuweilen erschreckend belebt...“

Die Unruhe

Mit dem Zweifel nimmt die Unruhe zu. Das Changieren symbolischer Bedeutungen, ,,da bald das eine, bald das andere Motiv vorwiegt“, setzt das Elementargeschehen von neuem in Gang, da ,,durch diese Differenz erst die Bewegung entsteht.“ Hierher gehört Ernst Jüngers Rede von der ,,antaiischen Unruhe“, die dadurch entsteht, daß mythische Reiche in den stereoskopischen Blick einschießen und die erstarrenden Ordnungen ,,des Arbeiters“ zweifelhaft erscheinen lassen. Ernst Jünger sieht darin die ,,Angriffe des Wunderbaren auf die Welt der Tatsachen.“ Die dadurch erzeugte Unruhe ist kennzeichnend für die Vorhöfe zu neuen Ordnungen. Hier gibt es das eigentümliche Schwingen zwischen dem Faszinierenden einerseits und dem Alarmierenden andererseits. Ein solches Schwingen kann sich derart steigern, daß einem schwindelt beim Einblick in die unerhörten und bisher verdrängten, vergessenen Lebenstiefen. Hier steigert sich das Zwielicht derart, daß Leben und Tod symbolisch ungeschieden, aber völlig paradox zusammengehen. Der Tod erscheint als Leben – die Zeugung als Sterben; die Vernichtung als lebendiger Wert - - - hier erscheinen die stärksten Symbole von magischer Gewalt. Die durch sie erzeugte neue Elementarbewegung läßt sich bezeichnen als Eros des Krieges, der Revolution. Dann erscheint der Tod als größter Freier der Welt.

Die Drohung

Das Doppelspiel der Symbole erzeugt eine drohende und zugleich anreizende Welt. Das kann sich bis zur ,,Wut der Massen“ steigern und im Blutrausch kulminieren, während die Bipolarität der moralischen Welt überschritten wird. Dann rückt das Unmögliche in den Bereich des Möglichen. ,,Diese wunderbare Kräftigung verleiht auch dem Schwachen eine furchtbare Macht; sie wappnet ihn mit Geistergewalt.“ In diesen Zusammenhängen erscheint der totale Krieg möglich in einer Form, in der wir ihn noch nicht kennen: als das ,,Elementarereignis mit technischer Auslösung“.

Die magische Erstarrung

Apokalyptische Visionen, Katastrophenwitterung und alarmierende Signale, die uns die Erde selber gibt, vermögen dennoch kaum den Bann zu durchbrechen, in dem der Mensch des technischen Zeitalters, der Strahlungszeit, gefangen ist. Das hängt damit zusammen, daß der Mensch auf eine eigentümlich Weise an die elementaren Formen, die der geometrische Weltstil der Technik in kosmischer Strenge zum Ausdruck bringt, gebunden ist. Diese ,,magische Bindung erfolgt durch die Projektion schichttypischer Bilder aus der Tiefe unserer Seele, die Ernst Jünger in Anlehnung an Hesiod das „Silberne Zeitalter“ nennt. ,,Das Silberne Zeitalter hat einen magmatischen, erstarrenden Zug. Die magische Bildung, die es hervorbringt, wird von der Zeit kaum angegriffen (...). Magische Kräfte können auch in die Technik einfließen, die dafür ein gutes Substrat bildet, und sie verhärten...“ Daß sie jedoch in positura Dei kristallisiert, ist genauso gefährlich, wie Magisches im „Einzelnen (...) in Ausnahmen bedeutende Phänomene“ hervorbringt: ,,Natursicht, Fernsicht, unmittelbare Heilkraft und prophetische Begabung – die Fähigkeit, zu wissen, was die Erde will.“

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Die kosmische Ordnung

Das Elementargeschehen zielt auf ,,Erdvergeistigung“. Dazu bedient es sich (unter anderem) des Menschen als Mediums“. Die Erde zu vergeistigen, heißt wahrzunehmen, daß die Formen des Irdischen wie der Welt überhaupt geistigen Ursprungs sind. Die Welt ist ,,Bild u n d Spiegelbild“: “...Das bist Du...“. Der Mensch, der die Erde vergeistigt, bringt die Universalia in re bewußt zum Ausdruck. In diesem Akt kommt ein Geschehen von hohem symbolischen Rang zum Ausdruck: Der Angriff auf die Zeit. Die Universalia in re zu vergegenständlichen,und zwar in ihren reinsten Aspekten, Urformen genannt, heißt nicht nur, Werke von Dauer zu schaffen, sondern für die Ewigkeit. Das sehen wir vorbildlich in den Pyramiden, das sehen wir vorbildlich auch im geometrischen Weltstil unserer Zeit, in der die kosmischen Urformen – das sind die Universalia in re – zum Ausdruck kommen. „Im Universum herrschen reine Formen: Kugeln, Kreise, Ellipsen, Parabeln, Kegel und Kegelstümpfe, Kristalle, wie sie die große Kälte bildet, die Parallelen und Netze der Lichtbahnen.“

Die Wiederkehr

Die kosmische Ordnung ist eine Ordnung der Wiederkehr. Ordnungen werden zerbrochen und durch neue ersetzt. Utopien wirken dabei auf den Menschen aktivierend, mobilisierend, politisierend; was – bis zu einem gewissen Grade – auch der Mythos leistet. Die ,,neue Ordnung“ ist aber nur in dem Maße ,,neu“, wie es die universalen Prinzipien, die überorganischen Prägungen der kosmischen Ordnung reiner zum Ausdruck bringt als die alte Ordnung.

Die Einsicht Nietzsches

Wiederkehr als Prinzip der kosmischen Ordnung und ihrer Folgen ,,haben Nietzsche(...) heftig erschüttert“. Denn, wie Nietzsche schreibt, ,,sie bringt alles zum Aufbrechen“. Die Lehre von der ,,ewigen Wiederkunft“ besagt: ,,Alles wird und kehrt ewig wieder – entschlüpfen ist nicht möglich.“ Für ,, diesen Gedanken“ erfordert es ,,Reife der Menschheit“. Sie ist: ,,Eine Prophezeiung“. Und: ,,Mutmaßliche Folgen davon, daß sie geglaubt wird“, gibt es ,,a) Mittel, sie zu ertragen; / b)Mittel, sie zu beseitigen.“

Der Kreis

Bekanntlich sah Nietzsche die ewige Wiederkunft in einem Kreis beschlossen und war damit in den Gegenstand seiner Konzeption eingetreten. Mit dionysischen überschwang begrüßte er diese Einsicht als den ,,hochzeitlichen Ring der Ringe – den Ring der Wiederkunft.“ Symbolisch ist diese Einsicht noch zu ertragen und hält auch das Elementargeschehen in Gang. Auch Jünger faßt die ,,Wiederkehr des ewig Gleichen“ als Symbolkreis auf. Als reine Form jedoch können wir ihn ebensowenig ertragen, wie wir dem Anblick der unverhüllten Wahrheit gewachsen sind.“ Trotzdem realisieren wir die ,,unverhüllte Wahrheit“ technisch und weltweit immer mehr, ohne uns jedoch über den Stil reiner Formen und ihrer im Erkenntnisstil gegenwärtig zu verständigen. Deshalb droht uns auch: ,,Ein Weltuntergang ohne transzendentale, metaphysische Aspekte und ohne das mächtige Licht, das von dort kommt und die Furcht vernichtet – das ist ein trauriges Bild. Es entstammt einer Zeit des Schwundes, einer bereits verkümmerten Phantasie.“ Die Schrecken, die der reine Schwund oder die nackte Wahrheit verbreitet, sind nicht gegeben, daß man von ihnen gebannt wie in einem bösen Traum erstarrt, sondern als Stationen ,,unseres Weges aufzufassen.“ Das heißt, sie sind zu objektivieren, bewußt zu machen so weit, daß wir sie gerade noch ertragen können: Als Formen der Erkenntnis. ,,Bereits wenn diese Schicht erreicht ist, kann die Welt nicht mehr ,,untergehen“.“ Es sei denn als die Form unserer Vorstellung, die beim Abscheiden jedes Einzelnen (...) erlischt.“ Die Welt war nur ein Traum. Aus ihm gilt es zu erwachen. Mit der Katastrophe verwandelt sich die Welt. Zum Maßstab dient Erfahrung früher Christenheit: ,,Dann wurden die Gitter aufgezogen; man stieß die Handvoll Menschen in die Arena hinaus. Die Sonne blendete. Doch war sie schwächer als das innere Licht. So stürzen Imperien, ändert sich die Welt.“

Die Grenze

Im Kreis und seinen geometrischen Inbildern fassen wir die kosmische Ordnung in ihren stets wiederkehrenden architektonischen Prinzipien auf. Im Grunde aber gibt es ,,nur eine Wiederkehr.“ Ernst Jünger nennt sie ,,das Auftauchen des Ewigen in der Zeit.“ (186) Indem wir dieses Ewige erkennen, ,,verdichtet sich die Welt.“ Das Universale in re, die geometrisch reine Form und ihre Wiederkehr bildet die Realität der kosmischen Ordnung und ihre Grenze aus.

Die paternitäre Welt

Zunächst erscheint die Grenze als Sinnbild paternitärer Macht. Sie findet in der imperialen Gestalt ,,des römischen Reiches (...), des großen Hortes der Vaterehrung und väterlicher Macht“, die vorbildliche Prägung. Ein Gott sicherte die Grenzen. In seinen Weisungen liegt das dictare: Ein intensives Sagen, das Sinn und Richtung besitzt . Der Wille des Gottes, der die Grenze schützt, wird im Cäsar plastisch: Seine geistige Hand organisiert den Organismus natürlicher Völkerfamilien zur grenzsetzenden Einheit des Reichs. Der Diktator bändigt die Bewegungen elementarer Kräfte, die Bestand, Eigentum und Grenze des Reichs bedrohen könnten. Dem römischen Geist ist alles abhold, was die Sicherheit gefährden könnte. Sein Wille richtet sich auf Stabilität und Seßhaftigkeit, auf Palast und Thron. „Eine Feststellung, (...) daß die Erdrinde sich gleich einer Haut zu bewegen vermag, hätte ein Römer niemals treffen können – er hätte sie als grauenvoll abgelehnt.“ Durch seine grenzsetzende Macht, den paternitären Nomos, greift der Mensch in die Evolution ein. Dabei ,,wird nun Titanisches erzeugt.“ Das zeigt sich ,,in den Staaten, ihren Städten, Bauten, Anlagen und Waffen“. Politische Gefahren nehmen im planetarischen Umfang physikalischen, bald auch biologischen Charakter an. Während das natürliche Wachstum von Organismen an sich Freiheit bedeutet, so die Organisierung von Organismen den Willen zur Macht, also Herrschaft schlechthin Sie hat ,,mit ihren Ansprüchen eine erdrückende Übermacht gewonnen“. Das mit der grenzausmessenden, geometrisierenden, kristallisierenden technischen Herrschaft schlechthin verbundene Nivellement aller natürlichen Bildungen wird begriffen als Opfer vor großen Erschütterungen, welche den Vater und seine grenzsetzende Macht stürzen. Mit ihm fällt alles, was durch ,,das Wort ,,von Gnaden“ (...) noch Repräsentation erfährt“ und schließlich auch Gott selbst. Er wird im Ausgang des paternitären Zeitalters und seiner Welt ,,eingezogen“. Er behält seinen legitimen Ort in der Transzendenz, einer Schicht im Menschen, die noch angerufen werden kann. Doch muß er im Urgrund der Person, bevor er wieder auferstehen kann, im Zeitalter matriarchaler Bildungen neu konzipiert werden. Die Konzeption des Vaters wird ein Bündnis des Geistes mit der Mutter sein.

Die matriarchale Architektonik

Die finalen Anstrengungen paternitärer Macht führen zu ,,Auskristallisationen“ hinsichtlich der Organisierung der Staaten als auch der geometrisch technischen Ordnung, die den Planeten prägt. Sie lösen eruptive Vorgänge des Urgrundes aus und damit die Bewegung elementarer Kräfte. ,,Das Unerlaubte der Machtentfaltung scheint uns dort zu beginnen, wo sie auf Kosten der Freiheit Riesenwuchs gewinnt.“ An der Grenze der Freiheit vereinigen sich weltrevolutionäre und erdrevolutionäre Kräfte. Von ihnen wird der Kristall, die Zeitmauer, der Spiegel, der die Schranke setzt ,,zwischen sich spiegelndem Bild und gespiegelten Bildern“, wie sie in der symbolischen Ordnung, den Träumen und der Sehnsucht des Menschen nach seinen Urmaßen zum Ausdruck kommen, zerbrochen. Dann ,,werden Bild und Spiegelbild sich wie Liebender und Geliebte zum Urbild vereinigen.“ Dieses Urbild wird als großes Mutterbild konzipiert, das herauszubilden unsere Zeit im Begriff steht. Seine Sinnbilder sind der Geliebte, der Bruder, der Leidende, der Schutzlose, die Umarmung. Sie sind kennzeichnend für den Übergang, mit dem sich materielle Mächte, die im Urbild der Großen Mutter wurzeln, ankündigen. Sie stehen im Auftrag des alle Ordnungen gebärenden Urgrundes, der Grundordnung der Welt, und führen ,,auf jene Schicht, die allem Sozialen zugrunde liegt und urgemeinsam ist.“ In dieser Schicht wurzelt d e r Mensch, ,,der unter dem Individuellen den Grundstock bildet und von dem die Individuationen ausstrahlen.“ Von hier aus erhält auch das Mantra ,,Das bist Du“ seinen schichtspezifischen Sinn. Mit dem Eintritt in den Gegenstand, wie ihn die Ordnung des Urbildes der Großen Mutter ausprägt, formiert sich die matriarchale Architektonik des Lebens: ,,der Bios zieht seinem Wesen nach kugel-, ei-, becher- und tropfenförmige Bildungen oder fließende Übergänge vor.“

Das kosmische Absolutum

Mit dem Eintritt in die matriarchale oder biotische Formenwelt hat der Mensch ,,nicht nur den Raum zu entdecken, sondern auch die Freiheit dazu.“ Die Grenzen werden weltweit transitorisch, weil die matriarchalen Formen dem Bios angepaßter sind. Während der Staat seinen Charakter als organisiertes Vaterland verliert und ,,zum Weltstaat, oder besser gesagt, zum Weltreich“ wird, findet die Erde die ihr gemäße Ordnung und darin der Mensch seine Heimat wieder. Die Mutter, die kosmische arché, die ,,von sich aus den Urgrund verkörpert und aus ihm gebiert“, zerbricht also die patriarchale Formenwelt. Indem sie sie zunächst zu ungeheurer Wucht steigert und zu kristallisierten Bildungen aufschießen läßt, weist sie dann durch die Prägung matriarchal biotischer Lebensformen auf die ,,Heimat der Freiheit“ hin. Als „das Grenzenlose“ ist sie ,,ein kosmisches Absolutum, das im Begrenzten“ der kosmischen Ordnung ,,als Spezifikum“ menschlicher Freiheit erscheint.

Anhang: Die Konzeption der Null

Zu gleichen Schlüssen gelangen wir, wenn wir die Konzeption der Freiheit, die im mütterlichen Urgrund wohnt, von ihrer nihilistischen Seite her betrachten. Um die kosmische Grenze, die Universalia in re, noch zu überschreiten, müssen wir trans lineam, über die geometrische Linie, welche die kosmische Ordnung und damit die menschliche Freiheit begrenzt, hinausgehen. Wir würden dann ein Bewußtsein jenseits der formhaften Erfahrung befahren und die Null als ein Bewußtsein konzipieren. Die Null als ein Bewußtsein zu konzipieren, heißt, ,,daß die Doppelwertigkeit der Null bewußt wird, die sowohl das Nichts als auch ein Ganz-Anderes vertritt“, heißt mit anderen Worten, das Nichts symbolisch wahrzunehmen. ,,Das kann zu großen Überraschungen führen, etwa dadurch, daß der Materialismus in sich umschlägt und eine unbekannte Seite offenbart. Hier könnte sich eine der Antworten verbergen, die der Osten zu geben hat.“ Hier ist vor allem ,,Asia Große Mutter“ gemeint, die ,,Mutter der Menschheit“ und jene indischen Denker, ,,denen die Welt die Konzeption der Null und des Prana verdankt.“

Bild: Das Haus der Familie Jünger (ehem. Försterei) in Wilflingen, Stauffenbergstraße.

Originalfassung mit Anmerkungsapparat und Bibliographie in:
Thomas Illmaier: Der Philosoph im All. Texte zur Kulturkritik. Essen: Die Blaue Eule, 1987.
ISBN 3-89206-191-2