Natur hilft heilen
Impulse für ganzheitliche Medizin

Nach einem Fachgutachten, das dem Internationalen Institut für kulturvergleichende Therapieforschung (IIKT) in Düsseldorf vorliegt, sollen 60 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung psychotherapeutisch behandlungsbedürftig sein. »Tatsächlich«, so der Leiter des IIKT, Dr. Walter Andritzky, »dauert es jedoch sieben Jahre, bis psychische und psychosomatische Erkrankungen überhaupt erstmals richtig diagnostiziert werden.« Das ist nicht nur eine lange Zeit, sondern kostet auch einen Batzen Geld; denn es könnten auch nur die akutesten Notfälle behandelt werden, ohne daß unser gesamtes Gesundheitssystem zusammenbräche. Also werden auch weiterhin viele Bundesbürger ihren »Frust« wegtrinken oder sich sonstwie betäuben. Es gibt jederzeit 2,5 Millionen behandlungsbedürftige Alkoholiker und 100 000 Heroinsüchtige in Deutschland.
Eine alarmierende Ausgangslage: Die kaum noch zu bewältigende Kostenlage des Gesundheitssystems und die wachsende Zahl tatsächlich kranker Menschen hat zwölf Ärzte und Psychologen zusammengeführt, die in Düsseldorf 1990 das IIKT gründeten. Die Arbeit des Instituts unter der Leitung des Soziologen und Psychologen Dr. Andritzky ist vor allem auf die Erforschung traditioneller Medizinsysteme in Europa, Amerika und Asien gerichtet, wo oft gänzlich vergessene Methoden Heilungserfolge versprechen und um vieles billiger anzuwenden sind als die hochmoderne Apparate- und Pharmamedizin.
Viele Bundesbürger haben sich von sich aus bereits von der reinen medikamentösen »Chemotherapie« der westlichen Medizin abgewandt. Viele Arzte kommen dem entgegen, indem sie z. B. Akupunktur, Homöopathie oder Yoga in den Behandlungsplan mit aufnehmen.
Allein die Kosten-Nutzen-Rechnung des westlichen Medizinsystems hat einen intensiven Austausch der Kulturen auf dem Gebiet der Medizin beschleunigt. So flog Dr. Andritzky 1992 zu den Curanderos (Heiler, von lat. curare = heilen) in Peru, die ihre Arbeit auf jahrtausendealte Naturmedizin gründen und großen Erfolg damit haben. Für Andritzky waren die Feldforschungen in Peru, Mexiko und Guatemala mit einer wichtigen Einsicht verknüpft, die er mit nach Hause brachte: »Heilung benötigt nicht den Anlaß von Krankheit oder manifester Störung, sondern stellt einen vom Tage der Geburt an fortwährenden Prozeß dar, der nichts anderes bedeutet als ein ständiges Gewahrsein der Beziehungen jedes Menschen zu seinen Nächsten, zur Umwelt, zur Erde und zum Kosmos.« Heilung in diesem Sinne verstanden fordert von der Medizin weit mehr als ein Reagieren auf Notfälle und spricht Soziologen genauso wie Theologen an.
Das IIKT veranstaltet in Zusammenarbeit mit dem Institut für medizinische Psychologie der Universität Düsseldorf regelmäßig die Ringvorlesung »Gesundheit und Heilung –Transkulturelle Perspektiven«.
Für den alten Berufsstand der Ärzte ist die gleichberechtigte Anerkennung eines Curanderos aus Peru noch ein heikles Unterfangen. Politiker in NRW sind jedoch fortschrittlich gesinnt: Die Arbeit des IIKT wird vom Ministerium für Wissenschaft und Forschung gefördert. Nicht zuletzt steht auch noch auf der Warteliste ein Projekt zu anthropologisch begründeten Maßnahmen in der Drogentherapie. Es soll Aufklärung darüber schaffen, wann und in welchem Umfang bestimmte Pflanzenmedikamente, deren ritueller Gebrauch sehr alt ist, sinnvoll eingesetzt werden könnten, um ihrem Mißbrauch, z. B. von Jugendlichen in der Pubertät, entgegenzuwirken.

Thomas Illmaier

Neues Rheinland, 12/1994, S. 15.


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