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"DER GEIST VON EDMUNDSTHAL"

Baumritzungen

Edmundsthal-Siemerswalde

1900-1945

Fotos: Svetlana Zunder

Texte: Thomas Illmaier, Gerhard Pautz

 

Edmundsthal-Siemerswalde ist ein Gebiet in der heutigen Atomstadt Geesthacht, die wegen ihrer Bedrohungslage als hochsicherheitsgefährdet gilt; denn Geesthachts Atomanlagen, das Kernkraftwerk Krümmel (KKK) und das GKSS-Forschungszentrum, sind nicht nur wegen menschlichen und technischen Versagens in der Kritik und dem Fokus der Weltöffentlichkeit sondern auch, weil die Geesthachter Atomanlagen Ziel eines Terroranschlags im Namen des Islam werden könnten, was in der öffentlichen Debatte und Wahrnehmung geflissentlich ausgeblendet wird. Damit wird die Sicherheit nicht befördert und die Zweifel wie die Angst der Bevölkerung nehmen zu.
     Geesthacht hat seit 150 Jahren allerdings gelernt, mit der Gefahr durch Herbeiführung von Sprengstoffexplosionen und Angriffen aus der Luft zu leben. In Geesthacht erfand Alfred Nobel 1867 das Dynamit und begann in Folge dessen in Geesthacht mit dem Aufbau Europas größter Sprengstofffabrik, in der während des II. Weltkrieges bis zu 20.000 Fremdarbeiter schufteten.
     Edmundsthal-Siemerswalde dagegen ist, wie schon sein Name sagt, ein Waldgebiet, gelegen auf dem Hohen Elbufer zu Geesthacht, mit herrlichem Blick auf die Elbe und die Weite der Marsch Niedersachsens von Schleswig-Holstein aus gesehen, zu dem Geesthacht seit 1937 gehört.
     Edmundsthal-Siemerswalde ist zugleich eine Hommage an Edmund Siemers (1840-1918), den legendären Hamburger Kaufmann und Reeder, der als Stifter, Gründer und Mäzen an der Schwelle zum 20. Jahrhundert sich u.a. der Krankenpflege widmete und in Geesthacht eine von Deutschlands ersten sog. Lungenheilstätten aufbaute, wo TBC-Kranke sich in sauberer, guter Luft ergehen und mit den damaligen Mitteln der Heilkunst der Ärzte ihre Krankheit, wenn auch nicht immer heilen, so doch erheblich lindern konnten.
     Der langjährige Chefarzt Dr. Johannes Ritter, Klinikleiter 1899-1947 der inzwischen in Hamburgisches Krankenhaus Edmundsthal-Siemerswalde umbenannten Lungenheilstätte in Geesthacht, das bis 1937 zu Hamburg gehörte, gab für die Foto-Ausstellung der Baumritzungen aus dem Wald von Edmundsthal-Siemerswalde 1900-1945 ungewollt das Stichwort ab; denn in seinen Memoiren „Erinnerungen und Erfahrungen“ (Geesthacht, 1989) überliefert der kurz vor seinem Tode zum Professor ernannte Dr. Johannes Ritter (1869-1951) das Wort vom „guten Geist“ in Edmundsthal, was schon damals im Zusammenhang mit den Heilerfolgen gegen TBC durch sog. Freiluftliegekuren, ärztlich verordnetem Milchtrinken, ausgedehnten Spaziergängen der Inbegriff einer vorbildlich geführten Klinik war.
     „Der Geist von Edmundsthal“ schien uns nach vielem Hin und Her der geeignete Titel für die Ausstellung der Baumritzungen aus dem Wald von Edmundsthal-Siemerswalde zu sein, spiegelt der Titel doch bis zu einem gewissen Grad das Geheimnisvolle der alten Baumritzungen, in denen sich Menschen der Gegenwart, zugleich aber dem Wachstum der Bäume und damit der Zukunft anvertrauten; denn die Buchen von Edmundsthal-Siemerswalde, in die geheimnisvollen Zeichen von Menschenhand geritzt worden sind, werden bis zu 600 Jahren alt.
     Gleichwohl gilt: Was wir empfinden, das wissen wir meistens, was der „Einritzer“ spürt, darüber können wir nur spekulieren, warnt der Arzt; denn Projizieren lohnt sich nicht.
     Das Geheimnisvolle der Baumritzungen entsteht aber auch ohne unser Projizieren u.a. durch das Wachstum der Buchen im Laufe der Jahre, das die Zeichnungen vergrößert und buchstäblich überhöht; so wirken sie wie Echos aus lange vergangenen Zeiten und wirken damit doppelt mysteriös.
     Sehr oft kehrt das Symbol des Hauses in den Baumritzungen wieder. Es könnte aus dem Gefühl der Geborgenheit dankbarer Patienten entstanden sein. Zugleich ist das Haus ja auch ein Schutzsymbol. Herzen mit Jahreszahl hingegen sind ein sehr geläufiges Motiv in Baumritzungen, mit denen sich Liebende wie nüchterne Zeitgenossen gleichermaßen verewigen. Ihre einfache Botschaft: Ich oder wir waren hier.
     Ganz so nüchtern wird es jedoch nach Kenntnis der Geschichte in Edmundsthal-Siemerswalde nicht abgegangen sein. Hierher gelangten auch Sterbende; während des II. Weltkrieges war die Klinik Lazarett, Fremdarbeiter kurierten sich hier aus. Spekulationen drängen sich auf, etwa über verliebte Paare, die sich und ihre Gefühle, auch im Tod vereint, unter tragischen Umständen verewigen wollten, waren sie nun einsam, verbittert oder enttäuscht. Vielleicht versuchten auch manche gleichsam beschwörend ihre verschmähte Liebe in die Rinde zu bannen, wer weiß! Das Siegel der Ritzung ist zugleich ihr Geheimnis.
     Eines der Fundstücke, eine richtige Trouvaille, bietet jene Buche mit geritztem Hakenkreuz, darunter Initialen, Stern und die Jahreszahl 1945 mit daran angelegter Siegesrune. Dazu befragte ich nicht einen Historiker sondern einen Psychiater. Demzufolge hätte ein Nazi diese Zeichen eingeritzt, weil ein Verfolgter oder KZ-Insasse nie diese Symbole benutzt hätte. Wir waren unschlüssig, ob wir auch dieses Zeichen zeigen und deuten sollten. Wir haben uns für die historisch genaue Überlieferung entschieden, der Fundort aber bleibt geheim. Die Suche danach hätte sich ohnehin erübrigt: Der Baum wurde inzwischen gefällt.
     Schließlich noch der Schlussakkord mit jener „Frucht“. Diese Ritzung ist wirklich sonderbar durch die pfeil- bzw. windenförmigen Blätter, die aus der Frucht zu sprießen scheinen.
     Natürlich   können   nicht   alle   Motive   der   Baumritzungen   von   Edmundsthal-Siemerswalde wiedergegeben, geschweige denn alle diese Baumritzungen gedeutet werden. Doch ihr Geist, „der Geist von Edmundsthal“ bleibt im beredten Schweigen des Waldes ein hoffentlich noch Jahrhunderte währendes und gut gehütetes Geheimnis.
      Wer die Baumritzungen in Edmundsthal-Siemerswalde sehen und bewundern will, die sich schön versteckt und für den Spaziergänger unerreichbar in vier Metern luftiger Höhe finden, muss sie tatsächlich in natura betrachten, um eine echte Vorstellung, einen genauen Eindruck, ein Gefühl für deren Sinn, Inhalt und Bedeutung zu gewinnen.                                                                              Thomas Marcus  Illmaier

 

 

 

Wanderung durch das Edmundsthal

 

Gerhard Pautz: 'Pinus sylvestris vor dem Elbstrom', 1985

Gerhard Pautz: Pinus sylvestris vor dem

Elbstrom, Öl mit Dispersionsweiß auf Hart-

faser, 160 x 80 cm, 1985

Die silbergraue Haut der Buchen, wie die Beine riesenhafter Elefanten, oben im Moränenwald, durch den das schimmernde Band der Elbe zu sehen ist. Auf jenen Buchen fand ich eingeritzte Zeichen - noch lesbare, und schon unlesbar gewordene. Ich sah ein Hakenkreuz, darunter die Jahreszahl 1945, und die Anfangsbuchstaben zweier Namen. 56 Jahre haben die, wohl einst mit einem Messer in die Baumrinde geritzten Zeichen in die Breite gezogen. Auch die Höhe der Inschrift konnte ich mit meinen Händen nicht mehr erreichen.

   Auf anderen Bäumen sah ich Herzen, alte Herzen, durch den Wuchs der Bäume fast unkenntlich geworden – und Namen, Zahlen, die nicht mehr lesbar waren. An einem Baum waren in ca. vier Metern Höhe rudimentär gewordene alte Zeichen. Der Herzen waren es viele, das Hakenkreuz blieb eine Ausnahme.
  Der Wald steht in dem früher abgezäunten Gebiet einer ehemaligen Lungenheilanstalt. Es waren wohl Patienten, die vor langer Zeit die Inschriften in die Bäume geritzt haben. Ich kann den Zauber nicht erklären, den die Inschriften auf mich ausübten, doch ich stand wie gebannt vor diesen Spuren, als wären es Formeln für die Öffnung eines Tores in die Vergangenheit. Mag sein, dass das wachsende Alter eines Menschen ihn sensibilisiert für das Geheimnis des Alters an sich, für den Leib des Alters, der aus verklungenen Geschehnissen, aus Gesichtern besteht. Es kann zur melancholischen Wissenschaft führen, der hauptsächlich ältere Menschen verfallen, denen man häufig begegnet, wenn sie ihre Schritte durch die übersiedelten Gegenden lenken, unter denen ihre Geschichten wie versunkene Teile Atlantis unsichtbar geworden sind.

   Als ich jenen Weg entlang ging, der vom Fluss kommend den Moränenrücken heraufsteigt, sah ich aus altem Laub winzig kleine Blausternchen und Traubenhyazinthen hervorleuchten - die letzten Zeugnisse einer Siedlung, die in meiner Kinderzeit auf der Elbterrasse existierte und jetzt, intensiv bebaut, jeden Erinnerungsgegenstand überwuchert. Die Blausterne und Traubenhyazinthen sind Nachkommen der längst zerstörten Gärten. Vielleicht wurden ihre Zwiebeln einst von Kindern an den Rand des Weges gepflanzt, der damals noch nicht vergattert war, oder sie sind als Gartenabfälle hier gelandet. Gleich wie, sie besitzen eine Geschichte, die mit meiner verflochten ist, und dieses Geflecht ist der Stoff, auf dem das menschliche Leben gedruckt wurde, gedruckt wird. Solcherlei Entdeckungen benötige ich, um nicht eines Tages zu glauben, ich wäre im Fell einer Chimäre zur Welt gekommen und aufgewachsen.

   Die Beziehungslosigkeit ist der Neuzeit gefährlichster Dämon; er frisst sich durch die reichhaltigen Schichtungen des Bewusstseins, bis der Mensch in einer grauen geschichtslosen Halle steht, und sein Stundenmahl in unstillbarer Gier herunterschlingt, nicht wissend woher, nicht wissend wohin, nicht wissend warum. Diesem Dämon zu entkommen, vor dieser sinnfressenden Leere die kleinen Schatztruhen zu öffnen, in denen die Geschichten unserer Geschichte liegen, ist mir die sinnvollste Arbeit, zu der der zerrüttete Geist des Menschen fähig ist.

   Im Edmundsthal, jenem Tal, das von Hochwald flankiert, vor vielen vielen tausend Jahren von Gletschern erschaffen wurde, die ihr Geschiebe hier als Endmoränen ablagerten, und durch ihre Schmelzwasser eben jene Täler erschufen, wie es das Edmundsthal eines ist, wurde, wie bereits erwähnt, schon im 19. Jahrhundert eine Lungenheilanstalt erbaut. Viele der großen alten Gebäude stehen hier noch aus den dunklen, fast mythologisch gewordenen Zeiten der Herrschaft der TBC. Zeit- und Leidensgenossen Kafkas und Klabunds haben hier schon ihre Herzen in die Rinden der Bäume geritzt, haben ihre und die Namen ihrer Liebsten in die Baumhaut graviert, wohl wissend, dass ihre Inschrift sie über viele Jahrzehnte überdauern würde.

   Noch in meiner Kinderzeit war dieses große, von dunklen Wäldern bestandene Areal tabuisiert. Hohe, mit Stacheldraht gekrönte Zäune umgrenzten das Gebiet, als wäre es ein anderes Land. Heute werden die vielen, in das waldige Tal gestreuten Gebäude als Rehaklinikum genutzt, mit erst kürzlich neu errichteter Geriatrie. Dieses Gebiet ist von einem tiefen Waldfrieden beatmet, und mir erscheint es sinnlich fühlbar, wie anders die Zeit sich hier gebärdet. Sie öffnet sich dem Auge des Betrachters, zeigt sich in ihren Schichtungen von natürlich morphologischer und menschlicher Architektur in seltener Eintracht. Die oft mehrstöckigen, weit voneinander entfernten Gebäude, von denen die meisten noch den großzügigen Ausdruck alter Bauweise besitzen, stehen im flutenden Vogelsang, immer in unmittelbarer Nähe zum rauschenden Atem des Waldes. Wie schwer muss der Mensch erst erkranken, um hier eine zeitlang wohnen zu dürfen, fern von den kakophonischen Zusammenballungen seiner Alltage.

   Ich sah vor einem Gebäude einen ausrangierten Kinderwagen stehen, und mich traf bei seinem Anblick ein Impuls wie ein kleiner Schlag aus erinnerungsreichem Entzücken. Es war das gleiche aus Korb geflochtene Modell, in welchem meine junge Mutter meinen kleinen Bruder, der heute schon „Opa“ ist, ausgefahren hat. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass er uns noch lange Zeit als funktionsunfähiger Spielgegenstand diente, ehe ihn mein Vater als aufgeweichten, zerfledderten „armen Teufel“ seitlich des kleinen Sandkastens im Garten vergrub. Nun war dieses Bild wieder auferstanden, wieder erreichbar geworden für mich durch den antiquierten Korbkinderwagen. Solche, durch scheinbare Zufälle drapierte Stilleben können innerhalb von Sekundenbruchteilen die Trennungslinien im Zeitbewusstsein überbrücken, und den Menschen in sein reich gegliedertes Kontinuum stellen.
   Wie gesättigt und angereichert von Zeugnissen müssen diese alten Gebäude in ihrem Inneren sein – gerade ihre Keller, Böden und Abseiten, in denen Ausrangiertes so oft überdauert, wären mir Sünden wert gewesen. Doch bleibt mir scheinbar Gesundem der Eingang zu den Häusern der Kranken verwehrt, und so muss ich mich mit den atmosphärenbildenden Kräften begnügen, die diesen Ort bevölkern – eine besonders feierliche Melancholie liegt über ihn gebreitet. Auf Friedhöfen oder in den Kirchenschiffen alter Kathedralen spürt man ähnliches. Es ist wohl so, dass sich das Alter älterer Menschen bedient, um ihnen einige Geheimnisse zuzuraunen, die der aktive, ständig vital abgelenkte Mensch nicht versteht. Die Summen, mit denen wir ständig umzugehen gewohnt sind, mit denen wir jonglieren wie Zirkusartisten unter der gestirnten Kuppel, finden erst eine wirkliche höhere Dimension in der höheren Summe unserer gelebten Zeit. Unermesslich in ihr versunken, erscheinen mir die atmosphärischen Bruchfetzen aus der Kinderzeit, doch vermag ich sie kühl zu datieren, und die Summe meiner vergangenen Jahre mit den Summen der versunkenen Erdzeitalter zu vergleichen; wirkliches Wissen totem Wissen gegenüber zu stellen, um die Dimensionen dem  abstrahierenden Verstand zur Auslotung zu überlassen. Doch was bedeuten uns 4,5 Milliarden Jahre wirklich, wenn schon 40 Jahre ausreichen, um 90 Prozent der damals gelebten Zeit ins Vergessen versinken zu lassen? Erst die „kleinen Brötchen“, die man sich unter der mühevollen Arbeit des Erinnerns „backt“, erzeugen das fassungslose Erschauern vor dem wirklichen Alter unserer Welt – keine Zahl kann dem mehr folgen. Zwar ist der sogenannte moderne Mensch vollgestopft mit Informationen vielfältigster Art, doch durchwimmeln sie nur seine Oberfläche, dienen keiner wirklichen Vertiefung seiner eigenen Beziehungen. Diese lassen sich auch durch das monströse Angebot der Multimedia-Gesellschaft nicht auf die Festplatte seines Bewusstseins installieren.
   So finde ich auf meinen Spaziergängen eine höhere, komplexere Art der Information, deren Aufschlüsselung auf den einmaligen Erfahrungen des Einzelnen basiert, also keine x-beliebig abrufbare Ware mehr ist. Es sind quasi Schritte aus der in der Masse versunkenen Existenz zu den Quellen ihrer Individualität. Gerade diese unteilbaren Erfahrungen schaffen eine sinnlich fundierte Beziehung zur zauberhaften, großartigen Ökologie, in der alles miteinander verwoben ist. Es bedarf so vieler Worte, die Abläufe geistigen Arbeitens erklärbar zu machen, dass ich berechtigte Zweifel hege, ob das Erklärenwollen überhaupt die adäquate Form der Mitteilung sein kann, zumal es sich um Empfindungen sehr alter, fast vegetativer Art handelt, die mir über Augen, Nase, Ohren und Haut übertragen werden. Die Versuche der Dechiffrierung und Übertragung dieser archaischen, pflanzenhaften Gefühle in das kommunikative Raster der Sprache, führen in die verzweifelten Abgründe des Dichtens schlechthin.

   Mein Versuch, jene Wanderung durch das Edmundsthal zu beschreiben, ist der Versuch, die komplexen Abläufe meines durch Bilder betörten Geistes zu veranschaulichen. Das Interesse Anderer daran kann und will ich nicht manipulieren. Es ist und bleibt ein Angebot meiner inneren Empfindungen an die Umwelt – vielleicht, und das wäre großartig, auch Inspiration für Einzelne, auf ihren Spaziergängen Beziehungen zu entwickeln.                                                                  Gerhard Pautz

 

Atelier SZ

Svetlana Zunder: Die Edmundsthal-Aquarelle